Bürgerrechtspolitik

"Für jede Gesamteinschätzung der Zusammenhänge zwischen der Sozialstruktur, der ökonomischen Entwicklung und dem politischen System des imperium Romanum unter dem Principat sind es fundamentale Tatsachen, daß von den ca. 6o-8o Millionen Einwohnern dieses Reiches zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. lediglich etwa 5 Millionen freie römische Vollbürger waren, daß nach modernen Schätzungen 9/10 der Gesamtbevölkerung nicht in Städten lebten, die politische Herrschaft Roms jedoch gleichwohl primär in den über 1.000 städtischen Siedlungen des Imperiums verankert war. Eine römische Gesellschaftspolitik etwa der Art, daß das römisch-italische Modell der Sozialstruktur systematisch auf das gesamte Imperium ausgedehnt würde, konnte es somit allen Voraussetzungen nach nicht geben.

Die Kontinuität der bestehenden sozialen Schichtung überwog so nicht nur im römisch-italischen Kernbereich, wo dies gegenüber der Situation der späten Republik offenkundig ist, von Augustus darüber hinaus auch noch demonstrativ propagiert wurde, sondern ebenso in den Provinzen. Andererseits wurden alle sozialen Gruppen in Italien wie in den Provinzen von dem neuen politischen System erfasst und ihm zugeordnet: Funktionen, soziale Mobilität, sozialer Status, aber auch die materielle Basis der einzelnen Reichsbewohner wurden in zunehmendem Maße direkt oder indirekt von den principes bestimmt oder doch zumindest entscheidend beeinflusst.

Das zentrale Problem der Herrschaftsorganisation lag nach den traditionellen römischen Kriterien in der Verklammerung der freien Nicht-Römer, insbesondere deren Oberschichten, auf die sich die römische Herrschaft in der Regel stützte, mit dem politischen System Roms. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden drei Wege eingeschlagen, die im folgenden noch näher zu besprechen sind: i. Die Fortsetzung einer konsequenten, aber behutsamen Bürgerrechtspolitik, 2. Die Organisation von Auxiliarformationen des römischen Heeres, die zugleich ein wesentliches Element der Romanisierung darstellten, 3. Die Stärkung und der Ausbau der Städte als der wichtigsten sozialen und politischen Zellen des Imperiums.

Die eingesetzten Mittel erwiesen sich lange Zeit als erfolgreich, doch sie führten auch dazu, daß jene Relationen, die im Augenblick der Gründung des Principats bestanden, nicht konstant blieben. Auf der einen Seite verlor das römische Bürgerrecht immer mehr an Bedeutung, je größer die Zahl der rechtlich Privilegierten geworden war. Durch die Constitutio Antontniana des Jahres 2 12/2 13 n. Chr. wurde es faktisch auf nahezu alle freigeborenen Reichsbewohner ausgedehnt, damit aber auch in seiner Qualität völlig deformiert. Auf der andern Seite vollzogen sich der Aufstieg der Angehörigen der Führungsschicht aus den Provinzen in die alten römischen Stände und in die Führungspositionen des Imperiums letztenendes auch zu Lasten ihrer Heimatstädte. Denn da die Blütezeit des Imperiums in den ersten beiden Jahrhunderten n.Chr. in den Provinzen zu einem beträchtlichen Teil von den sozialen Oberschichten der Städte finanziert wurde, war schließlich das ganze System gefährdet, wenn sich deren Mitglieder ihren Belastungen entzogen oder wenn sie überfordert wurden. Gerade dies aber trat in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. ein. Daraus folgt jedoch auch, daß der soziale Status umso größere Bedeutung gewann, je mehr der bürgerrechtliche an Bedeutung verlor.

Für die Einschätzung der römischen Bürgerrechtspolitik ist es wichtig zu berücksichtigen, daß dabei nach römischen Kriterien die- Kategorie der konkreten Rechtsgemeinschaft dominierend war, nicht diejenige einer abstrakten Staatsangehörigkeit nach modernem Verständnis. Es war sodann ein elementarer Grundsatz der römischen Bürgerrechtskonzeption, daß ein Fremder wohl zusätzlich das römische Bürgerrecht erwerben konnte, ohne das eigene zu verlieren, eine entsprechende Kompatibilität In umgekehrter Richtung jedoch nicht gestattet wurde. Bei der Verleihung des römischen Bürgerrechts, oder seiner Vorstufe, des latinischen, ist zwischen kollektiven und individuellen Verleihungen zu unterscheiden. Die ersteren waren zunächst sehr selten; sie erfolgten unter Caesar offensichtlich auch zu dem Zweck, damit die Rekrutierungsbasis zu erweitern, später vor allem dann, wenn die Anpassung einer Landschaft an römische Normen weit fortgeschritten war. So ist zum Beispiel die Zuerkennung des latinischen Rechts an die Bewohner Spaniens durch Vespasian einzuordnen."

 

Einzelverleihungen sind bereits aus der Epoche des 2. Punischen Krieges sicher bezeugt, waren jedoch lange Zeit außerordentlich selten und setzten voraus, daß sich der damit Ausgezeichnete für die Sache der römischen Bürgerschaft, später auch einer Partei der römischen Bürgerkriege, persönlich exponiert hatte. Unter dem Principat traten dann folgenschwere Veränderungen ein. Ging zuerst die Identität des römischen Bürgerrechts mit römisch-italischer Herkunft der Bürger verloren, so bald auch die Verwurzelung in der lateinischen Zivilisation, die lange Zeit condicio sine qua non jeder Bürgerrechtsverleihung an Fremde geblieben war. Gleichzeitig wurde die Verflechtung von Bürgerrecht und Bürgerpflicht in wesentlichen Bereichen aufgelöst, denn die in der republikanischen Epoche zentrale Bürgerpflicht, viele Jahre in den Legionen Wehrdienst zu leisten, wurde dank des stehenden Heeres des Principats nicht mehr in Anspruch genommen. An Fremde wurde das römische Bürgerrecht jetzt immer häufiger als Anerkennung aktiver Loyalität gegenüber dem Imperium Romanum verliehen.

Die Gefahr einer allzu liberalen Bürgerrechtspolitik wurde schon früh erkannt und kritisiert. Doch das Problem war deshalb so komplex, weil der beständige Zuwachs neuer römischer Bürger nicht nur durch die Anlage von Bürgerstädten und durch kollektive oder individuelle Bürgerrechtsverleihungen erfolgte, sondern in weit größerem Ausmaß durch die kontinuierliche Freilassung der Sklaven römischer Bürger. Eine restriktive Bürgerrechtspolitik gegenüber freien Fremden, insbesondere gegenüber den Angehörigen der Führungsschicht in den Provinzen, mußte absurd und anachronistisch erscheinen, wenn gleichzeitig Jahr für Jahr Tausende von Sklaven freigelassen wurden, deren Nachkommen in verhältnismäßig kurzer Zeit zu vollberechtigten römischen Bürgern aufstiegen. Diese Zusammenhänge hat bereits Augustus sehr klar gesehen, die sich schon unter ihm abzeichnende Gesamtentwicklung jedoch nur kurzfristig verzögern können.

Ein zweiter Weg der Verklammerung der römischen Herrschaft mit den Provinzen war mit der Neuorganisation der regulären Hilfstruppenteile des römischen Heeres beschritten worden. In ihren Infanterie- und Kavallerieeinheiten von jeweils rund 500 oder 1.000 Mann, den Kohorten und Alen, die zumeist mit dem Namen jenes Stammes bezeichnet wurden, aus welchen die Formation ursprünglich einmal aufgestellt worden war, dienten freie Bewohner der Provinzen. Diese Einheiten stellten häufig die Besatzungen der Grenzkastelle am Limes, daneben waren sie jedoch teilweise auch zusammen mit den Legionen in den großen Lagern garnisoniert. Wie die sogenannten Militärdiplome bezeugen, wurde den Angehörigen der Auxiliarformationen und ihren Kindern und Nachkommen nach der Ableistung von 25 Dienstjahren mit ehrenvollem Abschied das volle römische Bürgerrecht verliehen. Zugleich erfolgte die Legalisierung der Ehe mit der Frau, die der Betreffende zum Zeitpunkt der Bürgerrechtsverleihung hatte, oder bei Ledigen mit jener, die er sich später nahm, für die Einzelnen jeweils nur Eine", wie die stereotype Formel lautet. Auf diese Weise wurde das militärische Potential der Provinzen für das Imperium erschlossen und ihm dienstbar gemacht, die alte Praxis der Römischen Republik gegenüber ihren Bundesgenossen somit fortgesetzt und auf breiterer Basis wie in neuen Formen systematisiert. Die Gesamtzahl der so gewonnenen Soldaten erreichte jene der Legionäre, das heißt der freien römischen Bürger.

 

Vgl. Karl Christ, Die Römer. München 1994. S. 88 ff.