Väterliche Gewalt – Patria potestas

"Es war eine Eigentümlichkeit des römischen Rechts, welche die Griechen erstaunte, daß ein Sohn, ob mannbar oder nicht, ob verheiratet oder nicht, der Autorität des Vaters unterworfen war und erst bei dessen Tod ein vollwertiger Römer und selber »pater familias« wurde. Mehr noch, der Vater war sein natürlicher Richter und konnte ihn im Hausgerichtsverfahren zum Tode verurteilen. Außerdem besaß der Erblasser einen fast unbegrenzten Ermessenspielraum - der Vater konnte seine Söhne enterben. Was war die Folge? Ein junger Mensch, erst achtzehn Jahre alt, jedoch verwaist, kann sein Geliebte zur Erbin einsetzen, während ein Mann im reifen Alter keinerlei Rechtsgeschäfte aus eigener Vollmacht tätigen darf, solange sein Vater am Leben ist.

Juristisch gab es ohne Frage Abmilderungen der väterlichen Gewalt. Nicht jeder Vater enterbt seine Kinder, und um es zu tun, bedarf es eines verbindlichen Testaments. Die um das Erbe gebrachten Söhnen können versuchen, das Testament vor Gericht anzufechten; und man kann auf jeden Fall nur zu drei Vierteln enterbt werden. Was die Hinrichtung eines Sohnes kraft väterlichen Richterspruchs betrifft, welche die Phantasie der Römer stark beschäftigte, so stammten die letzten derartigen Fälle aus der Ära des Augustus und empörten die öffentliche Meinung. Immerhin bleibt es dabei, daß ein Kind kein eigenes Vermögen hat und daß alles, was es verdient oder erbt, dem Vater gehört. Der Vater kann dem Sohn nur einen gewissen Betrag (»peculium«, Sondergut) aussetzen, über den dieser nach Gutdünken verfügen darf. Und der Vater kann sich entschließen, den Sohn für mündig zu erklären und aus der väterlichen Gewalt zu entlassen ("emancipare"). Der Sohn hat also Grund, zu hoffen, und Möglichkeiten, zu handeln.

Aber die Möglichkeiten sind bloß Notlösungen, und die Hoffnungen bergen Risiken. Seelisch ist die Situation eines erwachsenen Manne dessen Vater noch lebt, unerträglich. Ohne Einwilligung seines Vaters kann er nichts unternehmen - keinen Vertrag schließen, keinen Sklaven freilassen, kein Testament machen.

Ohne Einwilligung des Vaters war auch jegliche Karriere des Sohnes versperrt." 1)

"Die für das Familienleben rechtlich gewiß konstitutive patria potestas des Mannes (oder seines Vaters) nahm in der Realität des Alltags kaum die Form der heroischen Szenen der Sage an, in denen der Vater, aus welchen Gründen und Motiven auch immer, erwachsene Kinder tötete. Sie zeigte sich auch nur selten in Exzessen bewußter Terrorisierung von Frau, Kindern und anderen Angehörigen der familia, sondern zumeist und in erster Linie in der Verfügungsgewalt über das Vermögen, wenn es sich um eine sog. Manus-Ehe handelte. Sie zeigte sich aber auch in der für jede Mutter entsetzlichsten Form, in der Entscheidungsgewalt des pater familias über die Aussetzung jener neugeborenen Kinder, die der Vater nicht aufziehen konnte oder nicht aufziehen wollte, sei es, weil sie Bastarde oder Mädchen, sei es, weil sie debil oder einfach nicht zu ernähren waren. Die inhumane Aussetzung von Neugeborenen auf öffentlichen Dunghaufen, die damit dem Tode oder günstigstenfalls der Sklaverei verfielen, war in der ganzen römischen Welt bis zum Jahre 3 74 n. Chr. legal und in der absoluten Gültigkeit der patria potestas begründet." 2)

 

1) Vgl. Philippe Ariès und Gorge Duby, Geschichte des Privaten Lebens. Band 1.Frankfurt 1989 S. 38 ff.

2) Vgl. Karl Christ, Die Römer. München 1994. S. 108.