Im
ersten Buch seines großen Geschichtswerkes Ab urbe condita
referiert Livius die Geschichte der Gründung Roms, so wie sie – mit
Variationen, aber immer als historische Wahrheit geachtet – seit Jahrhunderten
überliefert wurde: In Alba Longa raubte Amulius seinem älteren
Bruder Numitor den Thron und ließ die potentiellen Thronanwärter
Romulus und Remus, die angeblich der Gott Mars mit der Rhea Silvia, der
Tochter Numitors gezeugt hatte, im Tiber aussetzen. Die Zwillinge wurden
jedoch durch eine Fügung des Schicksals vor dem Ertrinken gerettet,
von einer Wölfin genährt und schließlich von einem Hirten
gefunden und aufgezogen. Später, als ihre königliche Abstammung
offenbar geworden war, töteten sie den Amulius und setzten Numitor
in Alba Longa als König ein.
Gründung
Roms
6.
Nachdem sie also dem Numitor den Thron von Alba überlassen, entstand
in Romulus und Remus der Wunsch, in der Gegend, wo sie ausgesetzt und
erzogen worden waren, eine Stadt zu gründen. Auch war in Alba und
Latium ein Überfluss an Menschen, dazu kamen noch die Hirten, so
dass alle zusammen wohl hoffen ließen, klein werde Alba, klein Latium
gegen die zu erbauende Stadt sein. Alsbald aber trat zwischen diese Pläne
das altererbte Unheil, die Herrschsucht, und ein gräßlicher
Streit entstand aus der anfänglich ganz gütlichen Übereinkunft,
dass, da sie Zwillinge seien und das Alter daher keinen Ausschlag geben
könne, die Götter, unter deren Schutz diese Gegend stehe, durch
den Vogelflug denjenigen bezeichnen sollen, welcher der neuen Stadt den
Namen geben, welcher, nach der Erbauung, sie beherrschen solle. Romulus
wählte sich den Palatin, Remus den Aventin zur geweihten Höhe
für die Vogelschau.
7.
Zuerst soll dem Remus ein Vogelzeichen geworden sein, sechs Geier; und
eben wurde das Zeichen gemeldet, als dem Romulus die doppelte Anzahl erschienen
war und jeden der beiden jeweils seine Leute als König begrüßten.
Jene folgerten das Thronrecht aus dem früheren Zeitpunkt des Vogelzeichens,
diese aus der Anzahl der Vögel. Streitend traten sie jetzt zusammen,
der Streit der Erbitterung ging über in blutiges Handgemenge, und
im Getümmel wurde Remus erschlagen. Die gemeinere Sage ist: Dem Bruder
zum Spotte sei Remus über die neuen Mauern gesprungen und deswegen
von dem erzürnten Romulus getötet worden, wobei Romulus drohte,
dass das jedem geschähe, "der über meine Mauern springen
wird." (...)
8.
Nachdem er (Romulus) den Götterdienst gebührend eingerichtet,
berief er die Menge, welche nur durch Gesetze zu einem Volk zusammenwachsen
konnte, und gab ihr eine Verfassung. Überzeugt, dass die Verfassung
nur dann diesen Menschen heilig sein werde, wenn er sich selbst durch
die Kennzeichen der Herrschaft ehrwürdiger mache, umgab er sich mit
einem ehrfurchtgebietenden Äußeren, vor allem dadurch, dass
er 12 Liktoren annahm. Nach der Meinung einiger entschied er sich
gerade für diese Anzahl wegen der Vögel, die ihm durch ihren
Flug die königliche Herrschaft zugewiesen hatten; ich aber trete
eher der Ansicht derjenigen bei, die das Amt der Liktoren sowie ihre Zahl
von den benachbarten Etruskern, woher auch der elfenbeinerne Stuhl und
die verbrämte Toga kamen, ableiten und nach deren Auffassung es die
Etrusker darum so gehalten, weil ihrem aus den 12 Städten gemeinschaftlich
gewählten König jede Stadt einen Liktor gegeben habe. Unterdessen
wuchs die Stadt dadurch, dass man den Umfang der Mauer mehr für die
Bevölkerung, die man für die Zukunft erhoffte, als für
die damalige Menschenzahl berechnete und einen Platz nach dem anderen
in die Ummauerung einbezog. Damit die Größe der Stadt nicht
nutzlos wäre und um eine große Anzahl Menschen herbeizulocken,
eröffnete Romulus – nach der alten Sitte der Städtegründer,
die einen verachteten und niedrigen Haufen an sich zogen und dann vorgaben,
die Erde habe ihnen Sprößlinge geboren – an der Stelle, die
jetzt, wenn man zwischen den "zwei Hainen" heruntergeht, verzäunt
ist, eine Freistätte. Dahin floh nun aus den benachbarten Völkern
alles ohne Unterschied, Freie und Sklaven, was nur eine Veränderung
seiner Lage wünschte. Dies war der erste Kern für die künftige
Größe. Jetzt, als er sich seiner Kräfte nicht zu schämen
hatte, sorgte er für eine Leitung dieser Kräfte; er wählte
100 Senatoren, entweder weil diese Zahl hinreichte, oder weil nur
100 vorhanden waren, die zu patres erwählt werden konnten.
Patres wenigstens wurden sie auf Grund ihrer Würde, und Patrizier
wurden ihre Nachkommen genannt.
Titus
Livius: Römische Geschichte. Übersetzt von C. F. Klaiber.
Stuttgart 1827, S. 22ff.
Quelle:
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