Stochastik
in der Schule


Gauss 3D

Band 18 (1998)
Heft 3

Uwe Küchler: Rezension von
'Norbert Schmitz: Stochastik für Lehramtsstudenten'
Münsteraner Einführungen: Mathematik, Informatik. Münster: Lit. 1997, 209 S.

Der Begriff der Stochastik faßt zwei Disziplinen zusammen, und zwar Wahrscheinlichkeitstheorie und Mathematische Statistik. Beide Gebiete befassen sich mit der mathematischen Behandlung zufälliger Erscheinungen in Natur, Technik, Wirtschaft und Gesellschaft. Unter Verwendung von Hilfsmitteln vornehmlich aus der Mengenlehre, der Analysis und der linearen Algebra werden, vereinfacht gesprochen, in der Wahrscheinlichkeitstheorie Modelle für die unterschiedlichsten Situationen entwickelt, in denen der Zufall eine Rolle spielt, und in der Mathematischen Statistik Methoden erarbeitet, solche Modelle an Hand von realen Daten zu überprüfen bzw. durch Wahl von Parametern an diese Daten anzupassen. Die genannten Disziplinen stehen in enger Wechselbeziehung und besitzen außerdem viele Anwendungen in anderen Bereichen, sowohl der Wissenschaft, als auch in der Praxis: Der Zufall ist überall. Genannt seien hier nur das sehr moderne Gebiet der Stochastik der Finanzmärkte, aber auch Gebiete mit langer Tradition in der Anwendung der Stochastik wie Physik, Medizin, Biologie, Versicherungsmathematik u. a.

Als ein wesentliches Hilfsmittel für Anwendungen der Stochastik erweist sich in immer stärkerem Maße leistungsfähige Rechentechnik einschließlich zugehöriger Software. Dabei ist eine sachgemäße Anwendung dieser Software, insbesondere die Auswertung ihrer Berechnungen, ohne Kenntnis zumindest der Grundlagen der Stochastik kaum oder nur in sehr eingeschränktem Maße möglich. Auch das spricht für das gewachsene Interesse an Grundkenntnissen der Stochastik, für deren Vermittlung dieses Buch einen Beitrag leistet.

Das vorgelegte Lehrbuch ist für Neulinge auf dem Gebiet der Stochastik gedacht und richtet sich vornehmlich an Lehramtsstudenten. Es wird aber auch von Studierenden anderer Richtungen mit Gewinn genutzt werden können. Es ist ein mathematisches Lehrbuch in gut lesbarer und studierbarer Form. Der Autor beschränkt sich auf die für das Verständnis und erste Anwendungen der Stochastik notwendigsten Begriffe und Aussagen, ergänzt sie durch zahlreiche illustrative Beispiele und Aufgaben und ermöglicht so eine erste nähere Bekanntschaft mit diesem reizvollen und lehrreichen Gebiet.

Zugrunde liegen langjährige Erfahrungen des Autors als Hochschullehrer für Stochastik an der Universität Münster. Das macht sich wohltuend bemerkbar bei der systematischen und ausgefeilten Darstellung des Stoffes: einerseits ist sie mathematisch präzise und in dem vom Autor gewählten Rahmen abgerundet, andererseits beschränkt sie sich auf elementare mathematische Hilfsmittel, die jedem Abiturienten zur Verfügung stehen, u. a. Mengen, Abbildungen, Grenzwerte, unendliche Folgen und Reihen, Kombinatorik. Insbesondere verzichtet der Autor auf jegliche Form von Maßtheorie, mit deren Hilfe natürlich ein Großteil des Buches sehr viel allgemeiner, aber auch sehr viel schwieriger für das Verständnis dargestellt werden könnte.

Darüber hinaus versteht es der Autor aber auch, die intuitiven Vorstellungen einzuflechten, die mit den mathematischen Begriffen der Stochastik verbunden sind, und ohne die der Leser kaum die Brücke zwischen dem mathematischen Begriffsgebäude der Stochastik und realen zufälligen Erscheinungen herstellen könnte. Der Leser wird diese Vorstellungen allerdings nur durch aktive Auseinandersetzung mit dem Stoff erwerben. Dafür sind zahlreiche Übungsaufgaben am Ende jedes Kapitels eine gute Unterstützung.

Das Lehrbuch ist als Begleittext für eine einsemestrige Vorlesung konzipiert und als solches dafür auch sehr gut geeignet. Obwohl es bewußt auf einige durchaus in diesem Rahmen denkbare Gebiete verzichtet (z. B. Irrfahrten, Zufallszahlen, erzeugende Funktionen), werden Studierende dennoch mit einer Fülle von Begriffen und Sachverhalten bekannt gemacht. Die Beschränkung kommt der ausführlichen Darstellung des Ausgewählten zugute. Das Buch ist in fünf Kapitel unterteilt. Das erste Kapitel ist den Laplaceschen Wahrscheinlichkeitsverteilungen (auch als gleichmäßige diskrete Verteilungen bekannt) gewidmet. Ihre Berechnung führt häufig auf kombinatorische Überlegungen, deren Grundzüge ebenfalls in diesem Kapitel dargelegt werden.

Kapitel zwei behandelt diskrete Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Ausgehend vom Fall endlicher Zufallsexperimente wird die Sigma-Additivitätseigenschaft von Wahrscheinlichkeitsverteilungen bei Experimenten mit unendlich vielen möglichen Ausgängen diskutiert. Die mathematische Modellierung zufälliger Erscheinungen mit Hilfe der Mengenlehre wird ausführlich dargelegt.

In Kapitel drei, dem umfänglichsten aller sechs Kapitel, wird der zentrale Begriff der Zufallsgröße behandelt. Ausgehend von ihrer Definition als Abbildung von der Menge der möglichen Ausgänge eines Zufallsexperimentes in eine Menge von "Zuständen" werden damit zusammenhängende Begriffe wie Wahrscheinlichkeitsverteilungen, Erwartungswert und Varianz einer Zufallsgröße entwickelt. Die Kovarianz und Korrelation zweier Zufallsgrößen werden untersucht, und mittels der Tschebyschevschen Ungleichung wird ein (sog. schwaches) Gesetz der großen Zahlen als ein Beispiel für ein wichtiges Resultat der Wahrscheinlichkeitstheorie hinsichtlich ihrer Anwendungen bewiesen.

In Kapitel vier geht der Autor über zum Begriff bedingter Wahrscheinlichkeiten und betrachtet die Unabhängigkeit von Ereignissen und Zufallsgrößen. Der Höhepunkt dieses Kapitels und der mathematisch wohl anspruchsvollste Teil dieses Buches überhaupt ist zweifellos der zentrale Grenzwertsatz von Lindeberg-Lévy inklusive eines Beweises.

Die letzten beiden Kapitel sind der Mathematischen Statistik vorbehalten, Kapitel fünf der Schätztheorie (Schätzer, erwartungstreue Schätzer, gleichmäßig beste erwartungstreue Schätzer, Suffizienz und Vollständigkeit) und Kapitel sechs der Testtheorie (Tests zum Niveau a, beste Tests für einfache Hypothesen, Neyman-Pearson-Lemma). Beide Kapitel stellen noch einmal hohe Ansprüche an die Bereitschaft des Lesers, sich in die sicherlich ungewohnte Begriffswelt und Denkweise der Stochastik und speziell der Statistik einzuarbeiten.

Unterstützt werden die Bemühungen des Lesers durch die durchweg sehr klare und anschauliche, mit Beispielen gespickten Darstellung des Stoffes, belohnt werden sie mit der Erkenntnis, daß den mathematisch präzisierten stochastischen und statistischen Denk- und Schlußweisen eigentlich eine ganze Reihe von Alltagserfahrungen und Schlußfolgerungsprinzipien entspricht, und daß man viele zufällige Erscheinungen nunmehr mit wissendem Blick zu beurteilen vermag. An der Entwicklung der Stochastik als mathematische Disziplin waren in der Vergangenheit viele mehr oder weniger bekannte Wissenschaftler beteiligt, dementsprechend tauchen in dem Buch auch viele Namen auf. Es wäre für Anfänger auf dem Gebiet der Stochastik sicher von Interesse und auch von Nutzen, etwas ausführlichere Daten zu diesen Namen zu erfahren.

Insgesamt gesehen ist es dem Autor gelungen, eine elementare, mathematisch fundierte und mit intuitiven Vorstellungen verbundene Darlegung wesentlicher Begriffe und Sachverhalte der Stochastik anzubieten. Auf dieser Basis kann der Leser Anwendungen auf reale Sachverhalte verstehen und selbst vollziehen, und er besitzt ein gutes Fundament für das Studium weiterführender Literatur. Dazu regt das vorliegende Buch sicherlich an.

Stochastik in der Schule 18 (1998) 3, 51-53