Stochastik
in der Schule


Gauss 3D

Band 18 (1998)
Heft 2

Paul Bungartz: Rezension von
'Norbert Henze: Stochastik für Einsteiger'
Vieweg, Wiesbaden 1997, 303 S., ISBN 3-528-06894-9

Zusammenfassung

Dieses Buch ist für "Einsteiger" sowie für "Wiederholer", für Studenten des Lehramtes und für Lehrer sehr empfehlenswert, auch für den mathematisch interessierten Anwender. Es enthält "nur" elementare mathematische Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik in diskreten Wahrscheinlichkeitsräumen, stetige Betrachtungen sind bewußt ausgelassen, ebenso eine vertiefte Behandlung von Problemen der beurteilenden Statistik. Die Art der Darstellung mit viel Text, die schlüssige Einarbeitung der Beispiele, die Übungsaufgaben mit Lösungen und die Angabe von Lernzielen zu jedem einzelnen Kapitel zeigen, daß dieses Buch insbesondere zum Selbststudium geeignet ist.

Natürlich bedarf es zum Erlangen von soliden Kenntnissen und Verständnis in Stochastik des Studiums von weiterführender Literatur oder des Besuches von Fachvorlesungen. Darauf wird immer wieder hingewiesen. Man hat nach dem Studium dieses Buches geradezu das Bedürfnis, sich mit der einen oder anderen Fragestellung aus Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Statistik intensiver zu beschäftigen. Dies ist ein erster Einstieg in die faszinierende Welt der Wissenschaft vom Zufall. Alle wesentlichen Fakten der elementaren Stochastik, die man bei einem ersten Studium kennenlernen sollte, sind schlüssig erarbeitet.

Es ist wohltuend, dieses Buch zu lesen. Der Text ist klar und einsichtig, es wird immer wieder konkret Mathematisierung betrieben. Modelle zu konkreten, aktuellen Problemen werden erarbeitet, mathematisch in Formeln gefaßt und gelöst. Es wird dabei nie versäumt, auf die Vereinfachung der Realität durch Modellbildung explizit hinzuweisen und in der Statistik (Testen von Hypothesen) vor falschen Schlüssen zu warnen.

Lobenswert ist auch, daß zu allen berühmten Mathematikern, die wesentliches zur Entwicklung der Stochastik beigetragen haben und im Text erwähnt sind, jeweils in einer Fußnote die Lebensdaten und eine Kurzbiographie angefügt ist.

Erwähnt wurde schon, daß keine stetigen Zufallsvariablen und Verteilungen behandelt sind. Es wird auch nicht näher auf die Verwendung von Computerprogrammen eingegangen. Es ist eben ein Buch für Einsteiger und nicht für Profis. Es wäre allerdings schon viel gewonnen, wenn jeder Lehrerstudent nach seinem Studium der Mathematik diese Kenntnisse in Stochastik besäße.

Bewertung im einzelnen

Die Kapitel 1-5 enthalten eine Einweisung in die mathematische Fassung der grundlegenden Begriffe: (1) Zufallsexperiment, Ergebnismenge; (2) Ereignisse; (3) Zufallsvariable; (4) Relative Häufigkeit; (5) Grundbegriffe der beschreibenden Statistik. Die Begriffe werden stets am Beispiel erarbeitet, erläutert, verdeutlicht, sie entstehen sozusagen genetisch aus den Anwendungen, es sind keine "technischen" Definitionen. Die vorausgesetzten mathematischen Kenntnisse sind wirklich minimal.

In den Kapiteln 6-12 wird konkret, jeweils unterlegt mit interessanten, nicht trivialen Beispielen Wahrscheinlichkeitsrechnung getrieben. Dies ist eine Bereitstellung von Fakten für die ab Kapitel 13 behandelten Verteilungen. Nach der Definition von endlichen W-Räumen (6) (später auch abzählbar unendliche W-Räume) und den Axiomen von Kolmogorov wird das Laplace-Modell (7) eingeführt und dabei schon das Teilungsproblem von Pacioli und das Ziegenproblem (3-Türen-Problem) angesprochen. Die Lösungen erfolgen später. Elemente der Kombinatorik (8) und das Urnen-/Teilchen-/Fächermodell (9) werden erarbeitet. Schließlich bespricht der Autor in einem eigenen Abschnitt das Paradoxon der ersten Kollision am Beispiel Zahlenlotto. Stochastik wird vorgestellt als eine faszinierende Wissenschaft, die auch auf solche Fragen eine Antwort hat. Die Formel des Ein- und Ausschließens (Siebformel) (11) wird ebenso wie Erwartungswert (12) für die Bearbeitung in den nachfolgenden Kapiteln erarbeitet.

Die Kapitel 13-19 behandeln jeweils mit interessanten Beispielen unterlegt diskrete Verteilungen: Die hypergeometrische Verteilung (13), mehrstufige Experimente, Baumdiagramme, Produktexperimente, Pfadregeln (14), Polya's Urnenschema (Ausbreitung von Krankheiten, z.B. AIDS) (15); Gemeinsame Verteilung von 2 Zufallsvariablen, Randverteilungen (18) ; Binomial- und Multinomialverteilung (19). In den Kapiteln (16) und (17) widmet der Autor sich intensiv der Erarbeitung von bedingter Wahrscheinlichkeit und stochastischer Unabhängigkeit. Es werden konkrete Probleme behandelt: Ziegenproblem (3-Türen-Problem); ein HIV-Test (Elisa); das 2-Jungen-Problem. Immer wieder gelingt es dem Autor, die abstrakten Definitionen anhand konkreter Aufgaben zu motivieren, zu verdeutlichen, zu erläutern. Beispiele untermauern die Theorie, doch die theoretischen, abstrakten Formulierungen kommen dabei nicht zu kurz.

Wurden bisher elementare Inhalte der Stochastik ausführlich und in gewisser Weise erschöpfend behandelt, so werden ab Kapitel (20) Inhalte der Stochastik angesprochen, die aufgrund der notwendigen Beschränkung auf "Einsteiger" nur in sehr einschränkender Weise behandelt werden können. Wenn der Leser diese Themen eingehender studieren möchte - beim Durchlesen der Texte erhält man sehr wohl das Gefühl, daß dies notwendig sei - so ist er auf weiterführende Literatur angewiesen. Auf diese wird an den entsprechenden Stelle deutlich hingewiesen. Die Behandlung von Pseudozufallszahlen (20); Varianz (21); Kovarianz und Korrelation (22) bedürfen eines intensiven Studiums, wenn die hier auftretenden Probleme hinreichend verstanden werden sollen. Es wird nur ein Zufallsgenerator angesprochen, das Testen der "Güte" von Zufallsgeneratoren kurz erklärt, die Regressionsgerade erarbeitet und Korrelation von Zufallsvariablen kurz erläutert. Eine intensivere Erarbeitung dieser Inhalte würde den Rahmen des Buches sprengen.

Die Einführung von diskreten (abzählbar unendlichen) Wahrscheinlichkeitsräumen (23), die Besprechung des Wartezeitproblems (24), die Poisson-Verteilung (25), das Schwache Gesetz der großen Zahlen (26) sowie der Zentrale Grenzwertsatz (27) gehören zum Standardwissen in elementarer Stochastik. Die Erläuterung der neuen Begriffe, die Hinführung auf die mathematischen Präzisierung der Aussagen, erfolgt wiederum unterlegt durch einprägsame Beispiele. Für mathematische Einzelheiten in der Herleitung wird auf weiterführende Literatur verwiesen. Ein Beweis des Zentralen Grenzwertsatzes erfolgt für den Spezialfall der Binomialverteilung Bin(2n, 1/2).

Kapitel (28) Schätzprobleme und (29) Statistische Tests beinhalten eine kurze aber prägnante Einführung in die beurteilende Statistik. Schätzungen, Konfidenzintervalle, Maximum-Likelihood-Methode werden "nur" für eine binomialverteilte Zufallsvariable eingeführt, allerdings sehr einsichtig und klar in den Formulierungen. Am Beispiel der "tea-testing-lady" werden die Grundregeln statistischer Testmethoden erläutert, Entscheidungsregeln erarbeitet. Binomialtest, Konfidenzbereiche, Signifikanzniveau, Chi-Quadrat-Test werden auf diesem Niveau eingeführt.

Der hier skizzierte Inhalt des Buches ist für den Adressatenkreis, den der Autor ansprechen möchte, sicher hinreichend . Es werden viele interessante, auch paradoxe Phänomene angesprochen und gelöst. Die Übungsaufgaben passen durchweg zu dem, was vorher erarbeitet wurde. Der Autor bemüht sich um Aktualität der Beispiele. Würfel und Münze werden nicht mehr als notwendig zu Erläuterungen herangezogen. Statt dessen werden interessante Aufgaben wie die Kollision beim Lotto, HIV-Infektion, BSE-Erkrankung, das 3-Türen-Problem, das Problem der vollständigen Serie etc. zur Motivation und für die Erarbeitung der Begriffe benutzt. Es gelingt ihm, die mathematischen Modellierungen in klar verständlicher Form verbal zu erläutern. Er vermeidet dabei bewußt die "nur-mathematische" Herleitung.

Das Buch "Stochastik für Einsteiger" wird der Zielgruppe gerecht. Es ist eine bewußte Einschränkung auf elementare Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Doch wird der Leser, der als Anfänger dies durchgearbeitet hat, sicher das Bedürfnis verspüren, sich noch intensiver mit dieser interessanten Wissenschaft zu beschäftigen. Er wird (hoffentlich) weiterführende Literatur zur Hand nehmen und studieren.

Prof. Dr. Paul Bungartz

Universität Bonn
Mathematisches Institut, Beringstraße 6
53115 Bonn
paul_bungartz@ math.uni-bonn.de

Stochastik in der Schule 18(1998)2, 44-46