Stochastik
in der Schule


Gauss 3D

Band 13 (1993)
Heft 3

Hans-Dieter Sill: Rezension von
'Manfred Borovcnik: Stochastik im Wechselspiel von Intuition und Mathematik'
BI-Wissenschaftsverlag, Mannheim 1992, Lehrbücher und Monographien zur Didaktik der Mathematik, Band 10, 453 S., ISBN 3-411-03206-5

1. Inhaltsüberblick

Beim Lesen des instruktiven Vorwortes werden hohe Erwartungen an den Band 10 dieser Reihe geweckt, der vier Jahre nach dem Band 9 und ein Jahr nach Band 18 erschien. M. Borovcnik berührt einen weiten Kreis philosophischer, erkenntnistheoretischer, psychologischer und didaktischer Fragen und beleuchtet so den komplizierten Hintergrund des Stochastikunterrichts in vielfältiger Weise.

Die Monographie enthält folgende 5 Kapitel:

1. Intuitionen und Mathematik (97 S.)
2. Intuitive Ideen der klassischen Statistik (79 S.)
3. Intuitive Ideen im Bayes-Ansatz (80 S.)
4. Intuitive Vorstellungen von Personen (69 S.)
5. Verständnis der Theorie über ihre Anwendungen (104 S.)
Im Kapitel 1 spannt der Autor zur Einordnung seiner Betrachtungsweise den Bogen bis zu Problemen von Gegenstand und Strukturen der Mathematikdidaktik. Er versucht, in knapper Weise drei unterschiedliche Strömungen mit dem Modell einer Dreierbeziehung aus Theorie, Realität und Subjekt einheitlich zu beschreiben und in Beziehung zu setzen. Damit bereichert er die "didaktische Dreieckslehre" um ein weiteres Konstrukt, das sich bei aller Problematik, auf die noch eingegangen werden soll, an vielen Stellen im Buch als nützliches Verständigungsmittel erweist.

In den weiteren Abschnitten des ersten Kapitels entfaltet M. Borovcnik bereits fast das ganze Spektrum seiner Ideen. In reduzierter, oft nur thesenhafter Form werden wesentliche Gedanken und Ergebnisse geäußert, die in den folgenden Kapiteln meist viel ausführlicher aufbereitet und begründet werden. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht der Abschnitt zur Geschichte stochastischer Ideen und ihrer Mathematisierung. Borovcnik versteht es, einen guten, kurzgefaßten Überblick über die Geschichte der Stochastik zu geben und dabei wesentliche Knotenpunkte der Theoriegeschichte herauszuarbeiten.

Überzeugend verdeutlicht der Autor am Beispiel des einfachen Münzwurfes und an weiteren Beispielen, daß in der Stochastik Intuitionen und Theorie in einem besonders widersprüchlichen und komplizierten Verhältnis stehen. Die originären graphischen Darstellungen lassen die Vielschichtigkeit und Verschwommenheit der Gedanken und Beziehungen erahnen, sind aber für sich schwer durchschaubar und so wenig hilfreich.

Im 2. Kapitel zeigt der Autor ausführlich, welche Intuitionen mit den Begriffen Wahrscheinlichkeit, zufällige Auswahl, Erwartungswert und Streuung verbunden sind. Dabei werden eine Reihe bemerkenswerter Zugänge zu diesen Begriffen entwickelt, die in dieser Art noch nicht oder selten in der fachdidaktischen bzw. der Schulbuchliteratur zu finden sind. Insbesondere die Auseinandersetzung mit dem traditionellen und in fast allen Schulbüchern praktizierten Weg zum Finden des Zusammenhangs von Wahrscheinlichkeit und relativer Häufigkeit durch das Verdeutlichen des "Stabilwerdens " der relativen Häufigkeit sollte jeden zum Umdenken veranlassen. Der Vorschlag von M. Borovcnik, der auf eine Idee von Freudenthal zurückgeht, scheint mir den intuitiven Vorstellungen und erforderlichen Interpretationen weit besser zu entsprechen.

Interessant und lesenswert sind ebenfalls die wissenschaftstheoretischen Analysen zum Problem der Repräsentativität einer Stichprobe. Sie zeigen m.E., daß historische Betrachtungen im Unterricht für das Verständnis fundamentaler Ideen möglicherweise sehr wirkungsvoll sind.

Das Kapitel 3 ist der Widerspiegelung intuitiver Vorstellungen durch die Bayes-Statistik gewidmet. Der Verfasser begründet und entwickelt ausführlich das von ihm schon in früheren Publikationen vorgeschlagene "Begünstigen-Konzept" und das Arbeiten mit Chancenverhältnissen. An einer Vielzahl gründlich diskutierter Beispiele wird gezeigt, wie mit dieser Methodik das Bayessche Denken in Informationen besonders einleuchtend gemacht und Hemmnisse, etwa im Verständnis von Symmetrie, fehlender Transitivität und Fallunterscheidung, überwunden werden können. Mehrfach stellt der Autor die Komplementarität Bayesscher Betrachtungen zur klassischen Statistik heraus, die durch die Arbeit mit umgekehrten Baumdiagrammen auch visuell erkennbar wird. Auf das Bayessche Prinzip wird nicht eingegangen.

Im 4. Kapitel setzt sich M. Borovcnik kritisch mit der Methodik und den Ergebnissen oft referierter psychologischer Untersuchungen zu stochastischen Primärintuitionen auseinander. Er zeigt die Grenzen und die Fragwürdigkeit der Forschungsresultate auf, die letztlich auch ein Spiegelbild der theoretischen und intuitiven Vorstellungen der Forscher sind. Wichtig scheint mir u.a. der Hinweis auf den Konflikt zwischen Reflexionen und Handlungen zu sein. Es ist ein Unterschied, ob über Bewertungen von Möglichkeiten reflektiert wird oder ob der Proband sich für eine konkrete Handlung entscheiden soll, wofür etwa im Fall der Gleichwahrscheinlichkeit weitere Strategien herangezogen werden müssen.

Eine interessante interpretative Leistung stellen die Ausführungen im 5. Kapitel zum Vergleich von klassischer und Bayesscher Bearbeitung von Anwendungsproblemen dar. Unter Verwendung bekannter mathematischer Zusammenhänge wird an einschlägigen Beispielen (Teilungsproblem, 3-Urnen-Problem von Riemer, Diagnosetest) sowie typischen statistischen Fragestellungen (Schätzen von Wahrscheinlichkeiten und Mittelwerten, Angabe von Vertrauensintervallen sowie Testen von Hypothesen) in dieser prägnanten Form meines Wissens erstmalig eine umfassende Analyse der relevanten methodologischen Probleme vorgenommen.

Besonders interessant ist die Diskussion einer Rekonstruktion der klassischen Methoden durch Bayes-Methoden. Dabei wird zunächst formal der Bayes-Ansatz als eine Erweiterung des klassischen Vorgehens aufgefaßt und eine a priori-Verteilung errechnet, die in der Bayes-Statistik numerisch die gleichen Ergebnisse liefert, wie das klassische Verfahren.

Trotz der meist nur stichpunktartigen und beispielhaften Referierung der mathematischen Beziehungen, werden die inhaltlichen Unterschiede der beiden Methoden überzeugend herausgearbeitet. Insbesondere wird durch diesen formalen mathematischen Vergleich noch einmal sehr deutlich, daß die Bayes-Methoden bedeutend besser geeignet sind, die eigentlich interessierenden Fragestellungen der Beurteilenden Statistik zu bearbeiten.

Die klassische Testmethodik nach Neyman und Pearson ist genuin mit zahlreichen Unzulänglichkeiten und Interpretationsschwierigkeiten behaftet, die eine Anwendung lediglich im Fall einer möglichen hinreichend häufigen Wiederholung des Testes unter gleichen Bedingungen sinnvoll macht. Es können zudem vom Ansatz her nur Aussagen über künftige Ereignisse getroffen werden. Bayes-Methoden erlauben dagegen einen Rückblick auf die konkret vorliegende Situation, sie gestatten Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Richtigkeit der untersuchten Hypothesen bzw. über die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern.

2. Gedanken zu einigen Problemen

Bei der Fülle der Probleme, die Borovcnik anreißt und der oft zugespitzten Art der Formulierungen, bleibt es nicht aus, daß einiges zum Widerspruch herausfordert. Die breite Anlage der Monographie erlaubt es ihm zudem nicht, alles in der erforderlichen Gründlichkeit zu bearbeiten.

Trotz vieler Anregungen für den Schul- und Hochschulunterricht, die das Buch bietet, bleiben die meisten didaktischen Fragen unbeantwortet. Es ist der Phantasie des Lesers überlassen, zu erahnen, was man in der Schule anders machen müßte und seiner realistischen Einschätzung, was davon machbar ist.

Insbesondere bleibt die Frage offen, welche Konsequenzen sich für Ziele und Inhalte des Stochastikunterrichts aus der dargestellten Situation ergeben, die von Wickmann (1990), Riemer (1991) und jüngst recht drastisch auch von Diepgen (1992) in ähnlicher Weise charakterisiert wird. Wenn aus wissenschaftstheoretischer Sicht die Inadäquatheit der klassischen Methoden in der Beurteilenden Statistik so klar hervortritt, ist ihre Behandlung im Unterricht nicht mehr zu rechtfertigen. Eine zusätzliche Aufnahme der Bayes-Statistik in den Unterricht und ihre Gegenüberstellung mit den in der Praxis ja immer noch dominierenden klassischen Methoden scheint mir inhaltlich und zeitlich nicht machbar zu sein.

Es bleibt nur übrig, entweder angesichts des Dilemmas in der Wissenschaft Statistik auf eine explizite Behandlung von Methoden der Beurteilenden Statistik ganz zu verzichten, oder aber die Bayes-Statistik für die Schule aufzubereiten. Dazu wären jedoch noch erhebliche Anstrengungen erforderlich. Weder die Monographien von Riemer und Wickmann noch die vorliegende Arbeit liefern z.B. einen realistischen und abgeschlossenen stoffdidaktischen Ansatz, von empirischen Untersuchungen zur Umsetzung möglicher Konzepte ganz zu schweigen.

Die für mich wichtigste Erkenntnis nach Lesen des Buches ist eine neue Sicht auf das Verhältnis objektivistischer und subjektivistischer Betrachtungsweisen, die zu einer Korrektur meiner erst jüngst dargelegten Auffassungen führt (Sill 1992). Während ich bisher die Bayes-Statistik als eine zwar wichtige, aber substantiell nicht notwendige Ergänzung ansah und im Prinzip subjektivistische Wahrscheinlichkeiten auf subjektive Schätzungen objektiver Wahrscheinlichkeiten reduzierte, glaube ich heute, daß zwei Arten von Wahrscheinlichkeiten existieren, die unterschiedliche und z.T. einander ausschließende Eigenschaften haben.

Der Begriff der objektiven Wahrscheinlichkeit spiegelt eine (physikalische) Eigenschaft eines realen Prozesses wider, nämlich objektives Maß für die mögliche Verwirklichung eines Ergebnisses dieses Prozesses bei Vorliegen eines bestimmten Bedingungsgefüges zu sein. Mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit wird eine Eigenschaft eines subjektiven Erkenntnisprozesses erfaßt. Sie ist Maß für die Sicherheit (Wahrheit) einer Aussage, die ein Subjekt auf der Grundlage ihm vorhandener Informationen über ein bereits eingetretenes, aber unbekanntes Ergebnis eines zufälligen Vorgangs trifft. Eine Verabsolutierung eines der Aspekte führt zur objektivistischen bzw. subjektivistischen Wahrscheinlichkeitstheorie.

Es ergibt sich die berechtigte Frage, ob für zwei verschiedene Dinge nicht auch unterschiedliche Bezeichnungen einzuführen wären, wie ja auch für den Begriff der Unabhängigkeit im Fall subjektiver Wahrscheinlichkeiten der Terminus Austauschbarkeit (exchangeability) üblich ist. Mir scheint jedoch der Zusatz der entsprechenden Adjektive ausreichend zu sein.

Nicht verständlich ist mir die mehrfach geäußerte Bemerkung, daß in der Explorativen Datenanalyse (EDA) von der Zufälligkeit der Daten abgesehen und nur nach Mustern im Datensatz gesucht wird. Gemeint kann nur sein, daß die Daten nicht aus einer Zufallsstichprobe stammen müssen und so nicht der Anspruch auf Repräsentativität besteht. Trotzdem sind die Daten aber Ergebnis zufälliger Prozesse und mit der "Mustererkennung" wird letztlich das Ziel verfolgt, stochastische Zusammenhänge aufzudecken, die dann bei Bedarf mit genaueren statistischen Verfahren weiter untersucht werden können.

3. Abschließende Bemerkungen

Das Buch reiht sich ein in die aktuelle Diskussion von Grundlagenfragen einer Didaktik der Stochastik. Es werden die bisher in der Literatur verstreuten Auffassungen des Autors zusammengetragen, strukturiert und durch eine Fülle neuer Gedanken angereichert.

Die Hauptleistung sehe ich in der in den Kapiteln 4 und 5 vorgenommenen kritischen Analyse psychologischer Untersuchungen und fachwissenschaftlicher Methoden. Die gewählte Methode der Analyse von Sachverhalten unter komplementären Aspekten halte ich für sehr fruchtbar. Es wird deutlich, daß gerade das Wechselverhältnis von Intuitionen und theoretischen Konstrukten grundlegend für Lernprozesse in der Stochastik ist. Viele Probleme in der Akzeptanz der Stochastik bei Lehrern und im Verständnis wichtiger Begriffe und Denkweisen bei Schülern liegen m.E. in der unzureichenden Beachtung intuitiver Vorstellungen im Unterricht.

Trotz einiger langatmiger und weitschweifiger Passagen sowie häufiger Wiederholungen gleicher Gedanken ist das Buch gut lesbar. Ich hätte mir gewünscht, daß neben den inhaltlichen Orientierungen zu Beginn eines jeden Abschnittes auch eine Einordnung der folgenden Ausführungen in den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Entwicklung erfolgt wäre.

Die Monographie eignet sich nicht primär als Einstieg in die Stochastik als didaktische oder als mathematische Disziplin, aber sie sollte ein entscheidender Anstoß aller mit dem gegenwärtigen Zustand unzufriedener Vertreter beider Disziplinen sein, eine Neuorientierung in Forschung, Lehre und Unterricht vorzunehmen. Sie kann Grundlage für ein ganzes Forschungsprogramm werden.

4. Literatur

Diepgen, R.: Objektivistische oder subjektivistische Statistik?: Zur Überfälligkeit einer Grundsatzdiskussion. Stochastik in der Schule 12(1992) 3, 48-54
Riemer, W.: Stochastische Probleme aus elementarer Sicht. Mannheim, Wien, Zürich: BI-Wiss.-Verl. 1991
Sill, H.-D.: Rezension zu: Wickmann, D.: Bayes-Statistik: Einsicht gewinnen und entscheiden bei Unsicherheit . Mathematische Texte, Bd. 4, Mannheim, Wien, Zürich: BI-Wiss.-Verlag 1990. ZDM 24(1992) 3, 86 -88
Wickmann, D.: Bayes-Statistik: Einsicht gewinnen und entscheiden bei Unsicherheit. Mannheim, Wien, Zürich: BI-Wiss.-Verl. 1990

Prof. Dr. Hans-Dieter Sill

Universität Rostock
Fachbereich Mathematik, Universitätsplatz 1
18055 Rostock

Stochastik in der Schule 18 (1998) 3, 50