Stochastik
in der Schule


Gauss 3D

Band 12 (1992)
Heft 1

Hans-Dieter Sill: Rezension von
'Dieter Wickmann: Bayes-Statistik: Einsicht gewinnen und entscheiden bei Unsicherheit'
BI-Wissenschaftsverlag, Mannheim 1990, 226 S.

1. Vorbemerkungen

Die Entscheidung zur Übernahme dieser Rezension traf ich im Zustand ziemlicher Unsicherheit. Die seitdem gewonnenen Erkenntnisse haben mich darin bestärkt, daß im Stochastikunterricht die Bayes-Statistik nicht länger ignoriert werden kann. Sie haben weiterhin zur Bestätigung und Einordnung eigener Ansätze und Ideen beigetragen.

Die zur Verfügung stehende Zeit reichte allerdings nicht aus, um die relevante Literatur umfassend aufzuarbeiten. Die vorgenommenen Einschätzungen sind deshalb nur als Zwischenbericht eines Didaktikers aus den neuen Bundesländern zu verstehen, und vor allem aus der Sicht auf die aktuellen Aufgaben bei der Integration der Stochastik in die Lehrpläne entstanden.

2. Inhaltsüberblick

Das Buch ist in folgende sieben Kapitel und einen Anhang gegliedert (in Klammer der jeweilige Umfang):

1. Einführung und Begriffsbildung (20 S.)
2. Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten (5 S.)
3. Wahrscheinlichkeitsverteilungen (10 S.)
4. Das Bayessche Theorem (17 S.)
5. Entscheiden bei Unsicherheit (10 S.)
6. Die Welt θ als Kontinuum (86 S.)
7. Kritik des klassischen Konzeptes (15 S.)

Der Anhang (63 S.) enthält didaktische Anmerkungen, Lösungen der Übungsaufgaben, Pascal-Programme, spezielle Werte von Verteilungsfunktionen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

Ausgehend von 12 Situationen der Ungewißheit aus den verschiedensten Lebensbereichen führt der Autor im Kapitel 1 den Leser an grundlegende Begriffe und Denkweisen der Bayes-Theorie heran. Nach einer kurzen Diskussion objektivistischer und subjektivistischer Wahrscheinlichkeitsauffassungen bringt der Autor seinen Standpunkt bei der Erklärung des Wahrscheinlichkeitsbegriffes im 2. Kapitel zum Ausdruck, indem er den Vergleich von Wahrscheinlichkeiten durch den Vergleich von Wetten definiert. Als Standardmaß gilt der Anteil weißer Kugeln in einer Urne.

Im Kapitel 2 und 3 werden einige Elemente eines üblichen Wahrscheinlichkeitskurses in knapper Form behandelt, "nicht nur, um einen vollständigen Kurs vorzulegen, sondern auch, um ihren Stellenwert im Gesamtkonzept deutlich werden zu lassen".

Im Kapitel 4 erarbeitet der Verfasser am Beispiel eines Urnenexperimentes in sehr ausführlicher und verständlicher Weise das prinzipielle Vorgehen bei der Anwendung des Bayesschen Theorems, mit dem eine Priori-Verteilung durch die Kenntnis von Beobachtungsdaten zu einer Posteriori-Verteilung verändert werden kann.

Mit zwei aus der Literatur bekannten Beispielen, dem Einsatz eines medizinischen Testes zur Diagnose einer seltenen Krankheit sowie einem Indizienurteil bei einem realen Mordfall (Schrage), wird die praktische Relevanz der Bayesschen Betrachtungsweise verdeutlicht.

Die Bayes-Analyse wird im Kapitel 5 durch das Bayessche Prinzip vervollständigt, das die Auswahl der Handlung mit maximaler Gewinnerwartung bei gegebener Gewinnfunktion beinhaltet. Damit kann in der Bayes-Statistik zwischen "Einsicht gewinnen" und "Entscheiden" differenziert werden.

Im Hauptkapitel 6 der Arbeit erweitert der Autor zunächst die Bayessche Methodik auf den Fall einer stetigen Welt θ, die er dann im weiteren ausschließlich betrachtet. Es ist zu begrüßen, daß der Autor alle wesentlichen mathematischen Inhalte, die zunehmend anspruchsvoller werden, stets ausgehend von ausführlich diskutierten, meist praxisbezogenen Problemstellungen behandelt. Dies trägt zur Erhöhung der Lesbarkeit des Buches und zum besseren Verständnis des prinzipiellen Vorgehens im Rahmen der Bayes-Statistik bei.

Am Beispiel der Beta-Verteilung (der zur Binomialverteilung konjugierten Verteilung) wird als Analogon zum Konfidenzintervall der klassischen (objektivistischen) Statistik der Gamma-Bereich höchster Dichte definiert, in dem ein unbekannter Parameter θ aufgrund eines Stichprobenergebnisses mit der Wahrscheinlichkeit Gamma liegt.

Nach der Herleitung des Grenzwertsatzes von de Moivre und Laplace sowie des Gesetzes der großen Zahlen setzt sich der Autor erneut mit einem rein frequentistischen Wahrscheinlichkeitsbegriff auseinander und bringt eine interessante Deutung des Bernoullischen Gesetzes.

Das abschließend diskutierte Beispiel eines dreigeteilten Glücksrads zeigt, wie mathematisch anspruchsvoll die Bewältigung mehrdimensionaler Probleme ist aber auch wie überraschend und einfach die Endresultate sein können. Ein schönes Beispiel für die Leistungsfähigkeit der Bayesschen Methode ist das in Ergänzung zu einer Lösung auf S. 193 entwickelte Verfahren zum Test eines Würfels in wenigen (n=30) Versuchen.

Im abschließenden 7. Kapitel des Buches setzt sich Wickmann aus Sicht des subjektivistischen Standpunktes prinzipiell mit der klassischen (objektivistischen) Methodik der beurteilenden Statistik auseinander und stellt in komprimierter Weise grundlegende Einwände gegen diese Vorgehensweise zusammen.

3. Stellungnahme zu ausgewählten Problemen

Da es sich bei dem Buch von Wickmann nicht um ein "normales" Stochastiklehrbuch schlechthin handelt, sondern um eine Kampfansage an ganze Legionen von Stochastikbüchern, sei es mir gestattet, daß ich mich in meinen Bemerkungen auf grundsätzliche Fragen beschränke.

Die Bedeutung und Stärke des Buches sehe ich in der geschlossenen, verständlichen und konsequenten Darstellung des subjektivistischen Zuganges zur Stochastik und seiner deutlichen Abgrenzung von der sogenannten "klassischen" Methodik. Diese Stärke des Buches scheint mir aber auch gleichzeitig seine Schwäche zu sein. Man findet lediglich Ansätze ausgewogener wissenschaftstheoretischer Betrachtungen wie sie z.B. von Steinbring (1984) oder Borovcnik (1988) in sehr tiefgehender Weise vorgenommen wurden.

Es ist, meiner Meinung nach, weder historisch noch wissenschaftstheoretisch zu erwarten, daß sich eine der beiden gegensätzlichen Auffassungen von der Natur des Wahrscheinlichkeitsbegriffes als die "richtige" durchsetzen wird. Auch wenn sich beide Standpunkte weitgehend logisch ausschließen, sind sie sowohl in der Realität als auch im Bewußtsein der Menschen nicht voneinander zu trennen.

Von der Bayes-Statistik geht der Reiz aus, dem man sich nach Hineindenken in das prinzipielle Herangehen kaum entziehen kann, damit eine Methodik zu besitzen, die dem eigentlichen Erkenntnisgang in empirischen Wissenschaften weit besser entspricht, als die klassische Statistik. Ich kann jedoch Wickmann nicht folgen, wenn er daraus den Schluß ableitet, letztere gänzlich zu verwerfen. Abgesehen davon, daß sich dies praktisch wohl kaum realisieren ließe, reichen die von ihm angeführten Argumente und Beispiele nicht aus, um die Notwendigkeit eines Abgehens von den klassischen Schätz- und Prüfverfahren zu erkennen. Die genannten Kritikpunkte bewegen sich weitgehend auf der begrifflichen und methodologischen Ebene.

Der wesentliche Zugang zu dem umstrittenen Verhältnis scheint mir jedoch in einer Analyse der praktischen Konsequenzen der beiden Methodiken, also ihrer Anwendungen, zu bestehen. Keine der beiden Methodiken kann m.E. für sich den Anspruch erheben, universell einsetzbar zu sein. Anhand der Beispiele in Wickmanns Buch läßt sich lediglich vermuten, wann ein Bayes-Ansatz günstiger ist. Es wäre im Sinne des Anliegens des Autors zu begrüßen gewesen, wenn der Leser Informationen über die Anwendungsgebiete der Bayes-Statistik erhalten hätte, wenn auf Probleme und Nachteile, aber auch entscheidende Vorzüge einer Bayes-Analyse aus praktischer Sicht näher eingegangen worden wäre.

Das Buch ist im Vergleich mit mathematischen Fachbüchern durch seine gute stoffdidaktische Aufbereitung relativ leicht, im Vergleich mit fachdidaktischer Literatur jedoch nicht einfach zu bewältigen. Auch wenn sich der Autor insbesondere in den ersten Kapiteln um Beispiele und Erklärungen bemüht, die in der Schule verwendbar sind, bleibt der größte Teil der Probleme, die sich bei einer Einführung der Bayes-Statistik in den Unterricht und einer damit verbundenen Veränderung der Konzeption eines Stochastikcurriculums ergeben, außerhalb der Diskussion.

4. Schlußbemerkungen

Das Buch ist von seiner Anlage her geeignet, bereits Lehrerstudenten bei entsprechenden Begleitveranstaltungen einen Einblick in die Bayessche Statistik zu geben, ohne daß sie vorher die mathematische Statistik im klassischen Sinne studiert haben müssen. Es ist als eine gelungene Fortsetzung der Anregungen von Dinges zu werten, die Bayessche Regel entsprechend ihrer Bedeutung und den Ansprüchen in der Lehrerausbildung darzustellen. Seinen besonderen Wert hat es aber für den Didaktiker und den unterrichtenden Lehrer, die es zwingt, gewohnte Denk- und Betrachtungsweisen kritisch zu prüfen, tiefer zu verstehen, anzureichern und zu revidieren.

Der bereitgestellte mathematische Apparat, insbesondere die im Anhang enthaltenen sehr nützlichen Pascal-Programme erlauben es, die angeschnittenen Problemkreise durch Variation der Daten und Bedingungen selbst weiter zu erforschen sowie bekannte Aufgaben auf eine andere Art zu lösen.

5. Literatur

Schrage, G.: Schwierigkeiten mit stochastischer Modellbildung - zwei Beispiele aus der Praxis. J. Math.-Didakt. 1(1980)1/2, 86-101
Steinbring. H.: Zur Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs: Das Anwendungsproblem in der Wahrscheinlichkeitstheorie aus didaktischer Sicht. Bielefeld: Universität Bielefeld 1980. IDM Materialien und Studien Band 18
Borovcnik, M. 1984: Was bedeuten statistische Aussagen. Wien: Hölder-Pichler-Tempsky, Stuttgart: B. G. Teubner, 1984. Schriftenreihe Didaktik der Mathematik, Bd. 8
Borovcnik, M. 1988: Zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund der Rechtfertigung statistischer Methoden. mathematica didactica 11(1988), 19-43
Borovcnik, M. 1986: Anwendungen der Bayesschen Formel. Didaktik der Mathematik 14(1986)3, 183-203
Riemer, W.: Neue Ideen zur Stochastik. Mannheim, Wien, Zürich: BI 1985. Lehrbücher und Monographien zur Didaktik der Mathematik Bd. 3
Dinges, H.: Schwierigkeiten mit der Bayesschen Regel. Math. Semesterberichte 25(1978)1, 113-156

Prof. Dr. Hans-Dieter Sill

Universität Rostock
Fachbereich Mathematik, Universitätsplatz 1
18055 Rostock

Stochastik in der Schule 12 (1992)1, 46-50