Stochastik
in der Schule


Gauss 3D

Band 12 (1992)
Heft 1

Hans Schupp: Rezension von
'Wolfgang Riemer: Stochastische Probleme aus Elementarer Sicht'
Lehrbücher und Monographien zur Didaktik der Mathematik, Bd. 18, B.I. Wissenschaftsverlag, Mannheim 1991

Es ist wichtig, daß fachdidaktische Arbeiten nicht nur von professionellen Hochschuldidaktikern sondern auch von Kollegen an der pädagogischen Front publiziert werden. Einmal, weil jeder Lehrer, der seinen Unterricht plant und analysiert, fachdidaktisch agieren und reflektieren muß; zum andern, weil die fachdidaktische Forschung durch Einbringen von Erfahrungen und Überlegungen, die von Unterrichts- und Schülernähe geprägt sind, problemnah und praxisrelevant bleibt.

Glücklicherweise haben wir in Deutschland eine ganze Reihe von Kollegen aus der Schule, die seit Jahr und Tag die fachdidaktische Diskussion bereichern. Wolfgang Riemer gehört zu denjenigen unter ihnen, die in der letzten Zeit am meisten aufhorchen ließen. Seine Arbeiten zum Stochastikunterricht weisen eben jene Kombination aus Sensibilität für Probleme des Unterrichtsalltags, Fähigkeit zur Analyse der relevanten Faktoren, fachliche Kompetenz und Phantasie zur Entwicklung praktikabler Lehrsequenzen auf, die den "Schuldidaktiker" auszeichnet.

So schlägt man sein neuestes Buch mit großer Erwartung auf, ist zunächst enttäuscht, daß es nur eine Zusammenstellung jüngst erschienener Zeitschriftenartikel zu bieten scheint, merkt aber bald, daß es doch auch Erweiterungen und Vertiefungen enthält, und vor allem, daß diese Artikel (Kapitel) durch ein "geistiges Band" zusammengehalten werden, das ihre jeweilige Funktion klarer hervortreten läßt, als dies in den Einzelpublikationen geschehen konnte: durch den Versuch nämlich, "die ungenetische Trennung zwischen Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zu überwinden" (S. 11), indem man "genuin statistische Gedankengänge schon von den ersten Unterrichtsstunden an zu einem Bestandteil des Stochastikunterrichts" (S. 12) macht.

In Kapitel 1 wird gezeigt, wie schon beim Aufbau eines tragfähigen (d.h. prognostischen und hypothetischen) Wahrscheinlichkeitskonzepts neben der Aufnahme stochastischer Primärintuitionen auch die Konfrontation mit realen Daten unverzichtbar ist.

Der Autor hat dabei insbesondere mit den von ihm konstruierten und vertriebenen partiell symmetrischen Objekten (s. Riemer 1988) gearbeitet. In der Literatur (s. z.B. Walter 1975 oder Steinbring 1985) liegen aber auch genügend Belege dafür vor, daß das notwendige Wechselspiel zwischen hypothetischen Wahrscheinlichkeiten und konkreten relativen Häufigkeiten sich auch an klassischen Materialien vollziehen kann, wenn man die Schüler nur genügend kritisch gegenüber Erstannahmen (z.B. Gleich- oder Binomialverteilung) macht.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit dem Abwägen zwischen Alternativhypothesen und führt dazu die Bayes'sche Methode der sofortigen und fortgesetzten Auswertung neuer Daten (Lernen durch Erfahrung) ein. Dieser Abschnitt hat mich von Absicht und Praktikabilität her sehr überzeugt, während die nachfolgende Einführung des Entropiebegriffs für eine Frühphase doch zu schwierig erscheint (wie soll das Maß  Σ  p(i)log2(1/p(i)) verstanden und plausibel gemacht werden?) und auch keine wesentlich neuen Einsichten bringt: Daß beim Erkunden eines Urneninhalts das Ziehen mit Zurücklegen Information verschenkt, ist auch intuitiv klar.

Die Kapitel 3 und 4 bringen den Vergleich zwischen einem Datensatz und einer Hypothese (Chi-Quadrat-Anpassungstest) bzw. zwischen zwei Datensätzen (Chi-Quadrat-Unabhängigkeitstest). Der Verfasser sieht hier (m.E. zu Recht) eine Grenze der Bayes'schen Vorgehensweise gegeben. Wichtig aber wird nun die fundamentale Idee des Simulierens und ihre Realisierung auf dem Computer. Sein (alle Kapitel durchziehender) Einsatz ist für mich ein Musterbeispiel für die anzustrebende selbstverständliche Inanspruchnahme dieses mächtigen Werkzeugs beim Verfolgen originärer Ziele des Mathematikunterrichts. So wird es möglich, die für einen anwendungsorientierten Mathematikunterricht recht wichtigen beiden Tests auch schon in der SI zu behandeln. Das gilt natürlich nicht mehr für die (geschickten) Herleitungen des Grenzverhaltens der jeweiligen Testgrößen über deren vektorielle Deutung und Visualisierung als Irrfahrten.

In Kapitel 5 werden die gewonnenen Einsichten auf die Riemer'schen Körper angewendet. Dabei zeigt sich, daß die Versuchsbedingungen (wie wird geworfen?) eine erhebliche Rolle spielen. Daß sich à la longue in jedem Falle eine Boltzmann-Verteilung einstellt, kann wohl nur mitgeteilt werden.

Kapitel 6 enthält eine heuristische Begründung des Zentralen Grenzwertsatzes. Sie geschieht über Rekursionsgleichungen für Zufallsgrößensummen, die in eine Differentialgleichung für die Normalverteilung münden.

Die Kapitel 7 und 8 übertragen diese Methode auf eindimensionale Irrfahrten, wodurch einmal der Anpassungstest erneut begründet werden kann und andererseits die Arcsin-Verteilung beim zeitlichen Vergleich gleichguter Konkurrenten erreichbar wird. Der Autor schreibt: "So werden elementare Wege zu recht anspruchsvollen Themen gebahnt, die über bloße Computersimulationen hinausgehen." Das Wort "elementar" erscheint auch im Buchtitel und ist möglicherweise irreführend, weil der Verfasser eine ungewöhnlich weitgehende Vorstellung damit verbindet. Im Gegenteil mutet er dem Leser allerhand zu. Auch dem, der das Gelesene einbringen möchte; denn daß "sich diese Ideen meist nur mit wenig Mühe im Unterricht, in Klausuraufgaben und in Projekte umsetzen lassen" (S. 5), halte ich für ausgeschlossen.

Für den Autor spricht allerdings, daß die aufgewiesenen Wege neu sind, daß sie in der Tat einfacher scheinen als bekannte Zugänge zur infinitesimalen Stochastik, daß sie vorzüglich dargestellt, exemplifiziert und kommentiert sind, und schließlich auch, daß theoretische Passagen in der Regel durch experimentell-simulative Aktivitäten vorbereitet werden. Diese ermöglichen die Behandlung aller vorgestellten Problemfelder auch dann, wenn an eine theoretische Behandlung nicht gedacht ist.

Wer mit dem Autor der Meinung ist, daß - zumindest in der Schule - Wahrscheinlichkeiten als Schätzwerte für relative Häufigkeiten in langen Versuchsserien aufgefaßt werden sollten, muß dies keineswegs als Mangel auffassen: der Computer kann solche Serien bei Bedarf schnell und ökonomisch herstellen und macht daher Schätzungen für praktische Zwecke überflüssig.

Kapitel 9 ist als Hintergrundinformation für den Lehrer gedacht: Mehrere Plausibilitätsargumente aus vorangegangenen Kapiteln werden mathematisch abgesichert.

Kapitel 10 stellt das Unterrichtsprojekt "Partnersuche" vor, in dem über einen Fragebogen Daten gesammelt und in eine Datenbank eingegeben werden. Sie bieten Gelegenheit, Grundbegriffe und -methoden der beschreibenden und auch der beurteilenden Statistik im größeren Kontext anzuwenden. Ob dieser glücklich gewählt wurde, sei dahingestellt; jedenfalls ist die Testgröße ('erotischer Abstand') einigermaßen fragwürdig und auch recht willkürlich definiert (worauf auch der Autor hinweist).

Riemer schreibt im Vorwort, daß alle vorgestellten Themen entweder im Unterricht beider Sekundarstufen oder in Seminaren behandelt wurden. In Kapitel 1 bezieht er - neben allgemeinen lernpsychologischen Bemerkungen - auch Schülerfragen und -reaktionen in seine Darstellung ein und läßt den Leser an deren Rolle für die Gestaltung des Unterrichts teilhaben (s. Eingangsbemerkung). Ab dann wird der Stil akademisch; Schüler kommen nicht mehr vor, auch nicht im Projektteil. Das bedaure ich.

Trotz dieser Einschränkungen: Ein lesenswertes, weil gründlich konzipiertes, klar geschriebenes und dabei originelles, innovatives und herausforderndes Buch.

Literatur

Riemer, W.: Riemer-Würfel. Stuttgart: Klett 1988
Steinbring: Wie verteilen sich die Kugeln beim Galton-Brett wirklich? mathematik lehren 22(1985), 31
Walter, F.R.: Der gezinkte Würfel. MNU 28 (1975) 5, 271

Prof. Dr. Hans Schupp

Grumbachtalweg 50
66121 Saarbrücken

Stochastik in der Schule 12 (1992)1, 42-45