Stochastik
in der Schule
Gauss 3D
Band 6(1986)
Heft 2

A.R. Monks: Gleich wahrscheinlich

Originaltitel in „Teaching Statistics“ Vol. 7(1985): Equally Likely
Übersetzung: Manfred Borovcnik

Zusammenfassung: Im Unterricht der elementaren Wahrscheinlichkeitsrechnung spielt der Begriff der Gleichwahrscheinlichkeit eine Schlüsselrolle. Der Autor berichtet über Fehlvorstellungen, die dazu in einer Klassenstudie geäußert wurden, sowie über seine Unterrichtsstrategie, diesen Fehlvorstellungen nachhaltig zu begegnen.



1. Vorbemerkungen1

Fehlauffassungen, die mit gleichwahrscheinlichen ‚Möglichkeiten‘ zusammenhängen, sind sehr weit verbreitet. Es wird z.B. nicht erkannt, dass angebotene Möglichkeiten tatsächlich gleich wahrscheinlich sind, angebotene oder naheliegende Möglichkeiten werden unzulässig für gleichwahrscheinlich eingestuft, die Gesamtheit realer Möglichkeiten wird für gleich wahrscheinlich beurteilt. Im Einzelfall sind jedoch unter dem Themenbereich ‚Gleich wahrscheinlich‘ die unterschiedlichsten Vorstellungen am Werke. Eine Ahnung von diesen individuellen Vorstellungen und Bearbeitungsstrategien soll durch die Diskussion von Schüleräußerungen zu folgenden Beispielen vermittelt werden. Diese Beispiele waren gleichzeitig Inhalt eines speziell ausgerichteten Unterrichts in einer Klasse von 25 intelligenten vierzehnjährigen Jungen: Im Unterricht sollte gerade die Art von Fehlauffassungen, die mit dem Begriff ‚Gleich wahrscheinlich‘ zusammenhängen, die als sehr tief verwurzelt bekannt sind, positiv beeinflusst werden. Über einige Details zur Gestaltung dieses Unterrichts sowie weitere Schüleräußerungen und den ‚Erfolg‘ der unterrichtlichen Bemühungen wird berichtet.

2. Problemaufgaben: Schüleräußerungen – empirische Befunde

Beispiel 1:

‚Die Wahrscheinlichkeit für einen Jungen (bei einer Geburt) beträgt ½. Welche Reihenfolge ist am wahrscheinlichsten?‘

(a)

J

J

J

J

M

J

(b)

J

M

M

J

M

J

Häufig kann man folgendes Missverständnis beobachten: Folge (b) wird für wahrscheinlicher gehalten, weil sie eine gleiche Anzahl von Jungen und Mädchen aufweist und daher als ‚repräsentativer‘ erscheint. In meinem Unterrichtsexperiment (Monks 1984) mit aufgeweckten vierzehnjährigen Jungen vertraten mehr als die Hälfte (15 von 25) diese Ansicht. Shaughnessy (1983) stellt die weite Verbreitung dieser Fehlauffassung in einer Studie amerikanischer College-Studenten (50 von 70, Alter 17-20 Jahre), die noch keinen Lehrgang in Wahrscheinlichkeitsrechnung absolviert hatten, fest. Tatsächlich jedoch sind die beiden Folgen (a) und (b) gleich wahrscheinlich.

Es gibt aber viele Situationen, in denen die Möglichkeiten nicht gleich wahrscheinlich sind.

Beispiel 2:

‚ Zwölf Münzen werden gleichzeitig aufgeworfen und landen auf dem Tisch. Dieser Versuch wird mehrmals wiederholt. Welche der folgenden Möglichkeiten wird am häufigsten auftreten?‘

(a)

2-mal Kopf und 10-mal Zahl

(b)

5mal Kopf und 7-mal Zahl

(c)

6-mal Kopf und 6-mal Zahl

(d)

7-mal Kopf und 5-mal Zahl

oder


(e)

sind diese Ergebnisse alle gleichwahrscheinlich ?

Einige der schwachen Studenten neigen dazu zu schließen, dass 6-mal Kopf und 6-mal Zahl häufiger eintritt als es ausbleibt. Sie geben daher die richtige Antwort (c) aus einem falschen Grund heraus. Unter jenen, die Antwort (c) geben, mag man also die besten und die schlechtesten Studenten finden. Viele jedoch argumentieren, dass die Ergebnisse gleich wahrscheinlich sind, weil sie nicht unterscheiden zwischen den möglichen, der Reihenfolge nach geordneten Folgen und den Ereignissen, wie sie oben beschrieben sind. In einer Untersuchung eines Querschnitts von Sekundarstufenschülern fand Green (1982) diese Fehlauffassung als die am weitesten verbreitete heraus: Fast 70% der Schüler jeder Altersstufe fallen darunter. Unter intelligenteren Kindern kommt diese Fehlauffassung jedoch seltener vor.

In vielen stochastischen Situationen hängt die richtige Bearbeitung einer Aufgabe von der Identifizierung gleich wahrscheinlicher Elementarereignisse ab.

Beispiel 3:

‚Zwei Stöße von Bauklötzen, A und B, bestehen aus 4 bzw. 3 Bauklötzen. Es werden weitere Klötze zufällig den Stößen hinzugefügt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Stoß A zuerst 5 Klötze erreicht werden?‘

Einige werden sagen ½, weil jeder Stoß dieselbe Chance hat, herausgegriffen zu werden. In meinem Unterrichtsversuch gab ein Schüler dazu folgende Begründung:

„A benötigt nur mehr einen Klotz. Die Wahrscheinlichkeit eines Klotzes, einem der beiden Stöße zugezählt zu werden, beträgt ½.“

Scharfsinnigere Schüler werden argumentieren, dass es drei Möglichkeiten gibt: A, BA und BB. Stoß A wird bei zwei von drei möglichen Fällen zuerst komplettiert, daher beträgt die Wahrscheinlichkeit 2/3. Ein Schüler erklärte: „Von drei Zieleinläufen gewinnt A zwei.“

Manchmal können Elementarereignisse und deren Wahrscheinlichkeiten nicht (vorweg) bestimmt werden und man muss auf den Häufigkeitsansatz ausweichen. Das ist etwa in folgendem Beispiel nötig.

Beispiel 4:

‚Einhundert Reißzwecken werden geworfen. Achtundsechzig landen und zweiunddreißig landen . Das Experiment wird wiederholt. Was wird am wahrscheinlichsten eintreten?‘

(a)

36

64


(b)

63

37


(c)

51

49


(d)

84

16


oder






(e)

sind diese Ergebnisse alle gleichwahrscheinlich ?

Eine verbreitete Fehlauffassung ist die, dass die zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeiten beider Lagen jeweils ½ betragen. Dieser Denkansatz führt zu zwei falschen Antworten, nämlich (a) und (c). Man beschreibt das Verhalten jener, die Antwort (a) geben mit dem Ausdruck ‚negative recency‘. Darunter versteht man eine Erwartungshaltung, dass Ergebnisse, die von einem vermuteten Mittelwert abweichen, in unmittelbarer Folge durch Abweichung in die andere Richtung ausgeglichen werden (‚regression to the mean‘). Personen, die diese Vorstellung haben, scheinen zu glauben, dass die Reißzwecken ein Gedächtnis haben! Antwort (c) kann man auch dahingehend deuten2, dass diese Personen bereit sind, experimentelles Beweismaterial zugunsten ihrer a priori-Überzeugung außer Acht zu lassen.

Viele der gewiefteren Studenten werden jedoch die vier Möglichkeiten (die Auswahlantworten) für gleich wahrscheinlich erachten. Sie werden dahingehend argumentieren, dass ein einzelner Versuch unzureichendes Beweismaterial zur Verfügung stellt, um solche Voraussagen zu machen, oder sie werden auf die asymmetrische Gestalt der Reißzwecke verweisen, die jedwede Analyse ausschließe. Einige jedoch werden die korrekte Art von Schluss ziehen und Antwort (b) geben.

3. Unterrichtsstrategien zur Vermeidung ungeeigneter Sichtweisen – Schüleräußerungen – Ergebnisse

Wie kann man Studenten beibringen, ihre Sichtweisen zu verändern, den Situationen geeignet anzupassen? Shaughnessy (1983) empfiehlt „Stimulation durch Simulation“, diesen Zugang habe ich gewählt. Ich unterrichtete eine Gruppe von 25 intelligenten vierzehnjährigen Jungen. (Die Jungen hatten gerade in den davorliegenden zwei Wochen Mathematik am ‚O level‘ abgeschlossen.)

Der Unterricht dauerte zwei Wochen und bestand aus: (i) Testfragen, (ii) Simulation, (iii) allgemeiner Diskussion in der Klasse, wobei ungefähr gleich viel Nachdruck auf jeden der beiden Aspekte gelegt wurde. Die Beispiele in Abschnitt 2 wurden in der Form eines Vor- und Nachtests den Schülern vorgelegt, aus deren Antwortverhalten sollten Schlüsse über die Wirksamkeit meines Unterrichtsversuchs gezogen werden. Im Folgenden werden die Ergebnisse aus Vor- und Nachtest sowie Details aus dem entsprechend gestalteten Unterricht dargestellt.

Im Beispiel mit den zwölf Münzen (Beispiel 2) konnte die am häufigsten vertretene Fehlauffassung, nämlich dass die Antwortmöglichkeiten gleich wahrscheinlich sind, wirksam bekämpft werden: Vor meinem Unterricht gaben 10 die Antwort (e), das ist vergleichbar mit dem Resultat von Green (1982), nach dem Unterricht waren es lediglich 4 von den 25 Jungen.

Im Beispiel mit den Bauklötzen (Beispiel 3) war es schon schwieriger, dem fehlerhaften Denkansatz, dass alle wirklich möglichen weiteren Spielverläufe (A, BA, BB) gleichwahrscheinlich wären, beizukommen: Ich habe eine Computer-Simulation der Spielverläufe durchgeführt, um den letzten Zweifler zu überzeugen. Erst dann habe ich die richtige Antwort mit dem traditionelleren Baumdiagramm hergeleitet. Das Ergebnis in Tabelle 1 zeigt zwar die Wirksamkeit meines Unterrichts, dennoch scheint der Denkansatz, der zur Antwort 2/3 führt, stark verwurzelt zu sein.

Tabelle 1:


Antworten


3/4

2/3

4/7

1/2

Vortest

7

14

1

2

Nachtest

11

14

0

0

Auch im Reißzwecken-Beispiel (Beispiel 4) war es nicht leicht, die Fehlvorstellungen auszumerzen. In meinem Unterrichtsversuch bin ich so vorgegangen:

Ein Computer-Programm modelliert einen Binomialversuch mit bekanntem (und fixierten) Stichprobenumfang sowie mit unbekannter zugrunde liegender ‚Erfolgswahrscheinlichkeit‘. Die Zahl der ‚Erfolge‘ wird ausgedruckt. Die Studenten werden aufgefordert, zu mutmaßen, wie viele ‚Erfolge‘ herauskommen werden, wenn der Computer das Experiment mit denselben Parameterwerten wiederholt. Der ganze Vorgang wird dann mit einer anderen ‚Erfolgswahrscheinlichkeit‘ wiederholt. Folgendes Spiel soll die Schüler ermutigen, die optimale Strategie (das Ergebnis des ersten Versuchs zu wiederholen) zu übernehmen: Der erste Spieler gibt seinen ‚Tipp‘, der zweite Spieler hat die Möglichkeit, ‚mehr‘ bzw. ‚weniger‘ zu wählen. Zuerst spielten jene Schüler, die die Testfrage richtig beantwortet hatten, gegen jene, die sie falsch beantwortet hatten. Sehr rasch wurde allen klar, dass gerade die Tipps nahe zum vorhergehenden Resultat die besseren waren. Es gab jedoch eine große Abneigung, exakt das Ergebnis des ersten Experiments zu wiederholen, am häufigsten wählten die Schüler einen Wert, der sich um eins oder zwei unterschied. Es scheint eine Fehlvorstellung der Art zu geben, dass ‚Koinzidenzen an sich unwahrscheinlich sind‘, obwohl diese gelegentlich tatsächlich aufgetreten waren.

Die Ergebnisse in Tabelle 2 deuten an, dass zumindest mittelfristig diese spezielle Simulation eine sehr wirksame Unterrichtsmethode ist, auch wenn einige Fehlvorstellungen sich als sehr hartnäckig erweisen.

Tabelle 2:


36/64

63/37

51/49

84/16

(e)

Vortest

1 (4%)

11 (44%)

2 (8%)

1 (4%)

10 (40%)

Nachtest

2 (8%)

18 (72%)

1 (4%)

1 (4%)

2 (8%)

Greens Ergebnis (Vierzehnjährige)

(4%)

(18%)

(8%)

(4%)

(65%)

In Tabelle 2 vergleiche ich meine Ergebnisse auch mit jenen von Green. Das Muster der Antworten intelligenter Kinder scheint dem von durchschnittlich begabten Kindern vergleichbar zu sein, obwohl erstere bei dieser Aufgabe deutlich besser abschneiden, auch vor einem entsprechenden Unterricht.

4. Abschließende Bemerkungen

Die besondere Ausgestaltung des Unterrichts, insbesondere Simulation und Diskussion ließ eine Anzahl von Fehlauffassungen im stochastischen Denken erfolgreich ausmerzen. Sie erzeugte jedenfalls durchgehend ein vertieftes Bewusstsein, dass eine sorgfältige Abschätzung in Fragen im Zusammenhang mit Zufallsprozessen vonnöten ist.

Fehlauffassungen, die mit gleichwahrscheinlichen ‚Möglichkeiten‘ zusammenhängen, sind sehr weit verbreitet. Insbesondere diese Art von Fehlauffassung ist schwer zu überwinden. Dies kann man jedenfalls nicht erreichen, wenn man sich auf das Hantieren mit Brüchen konzentriert, um Kinder in die Wahrscheinlichkeitsrechnung einzuführen, dazu bedarf es eines ursprünglicheren Zugangs.

Literatur

Green, D.R.: Probability Concepts in School Pupils Aged 11-16 Years. Loughborough: PhD thesis 1982.

Monks, A.R.: Misconceptions and Errors in Probability thinking. Nottingham: Msc dissertation 1984.

Shaughnessy, J.M.: Misconceptions of Probability and Statistics, Systematic and otherwise; Teaching Probability and Statistics so as to Overcome some Misconceptions. In: Grey, D.R. e.a. (Hrsg.): Proceedings of First International Conference on Teaching Statistics, Vol II. Sheffield: Teaching Statistics Trust 1983, 784-801.


A.R. Monks Trent College
Long Eaton Nottingham, NG 10 4 AD U.K.


1   Dieser Abschnitt wurde vom Übersetzer als Vorausblick eingeschoben; der Aufsatz wurde ferner der besseren Übersichtlichkeit wegen in Abschnitte gegliedert, die Darstellung der Unterrichtsvorschläge sowie der Ergebnisse des Unterrichts wurde von der ersten Darstellung der Beispiele und der individuellen Fehlauffassungen abgekoppelt. Die Aussagen von Monks wurden dennoch bestmöglich authentisch wiedergegeben.

2   Anmerkung des Übersetzers: Ich habe im Vergleich zum englischen Original bei der Deutung der empirischen Ergebnisse jeweils eine etwas mehr zurückhaltende Ausdrucksweise verwendet, so fehlt etwa die Passage „kann man auch dahingehend deuten“ im Original.