Stochastik
in der Schule
Gauss 3D
Band 6(1986)
Heft 2

Manfred Borovcnik:
Anmerkungen zur Tagung des GDM-Arbeitskreises 'Stochastik in der Schule'

Ich möchte im folgenden einige kleine, aber mir wichtig erscheinende Anmerkungen zu der genannten Arbeitstagung machen und damit den Bericht von R. Biehler und H. Steinbring darüber aus meiner Sicht ergänzen. Mein Ziel ist es, die weitere Diskussion um die inhaltliche Problematik der behandelten Themenbereiche offen und konstruktiv zu gestalten.

Die Diskussion des subjektivistischen Ansatzes für die Schule

Die Methoden zur Risikobestimmung in Kernkraftwerken (Vortrag Bungartz) setzen sich aus sogenannten elementaren Methoden der Wahrscheinlichkeitsrechnung sowie aus klassischen Methoden der beurteilenden Statistik zusammen (diese klassischen Methoden sind die 'üblichen' Methoden der Statistik, man bezeichnet sie auch häufig als 'objektivistische' Methoden). Wenn nun Biehler und Steinbring (in ihrem Bericht über die Arbeitstagung) meinen, dass man an einer Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Ausmaß an Subjektivität in Anwendungen der Stochastik im Stochastik-Unterricht nicht vorbeigehen kann, so möchte ich dies vehement unterstützen. Bungartz lieferte in seinem Vortrag hervorragendes Material für einen entsprechend gestalteten Projekt-Unterricht (siehe auch Bungartz 1985).

Ich möchte jedoch hervorheben, dass die subjektivistische Theorie zur Stochastik (auch Bayes-Statistik genannt, die Vorträge von Riemer und Wickmann) im Bericht (wohl wegen der Kürze) in zu vereinfachender Weise mit dem Anliegen von Bungartz in einen Zusammenhang gestellt werden: Bayes-Stochastik hat mit der Subjektivität von Anwendungen im Sinne der klassischen Theorieauffassung an sich nichts zu tun. Auf der einen Seite ist die klassische Theorie, deren Anwendungen auf Realität, wie jede Anwendung von Mathematik, (entgegen einer weitläufigen Meinung) einen hohen Gehalt an Subjektivität in sich tragen, auf der anderen Seite steht eine andere Theorie, die Bayes-Stochastik, innerhalb derer das denkende Subjekt und seine Einschätzungen und somit die Subjektivität eine ganz andere Rolle spielen. Ich möchte nicht, dass beim Leser der falsche Schluss 'subjektivistisch ist subjektiv' haften bleibt.

Der subjektivistische Ansatz ist nicht deswegen für den Unterricht interessant, weil sich die Anwendungen in diesem Rahmen besonders subjektiv gestalten und weil man ferner sich nun mit dieser Subjektivität speziell auseinandersetzen möchte, sondern, weil er eine spezielle stochastische Denkweise zum Inhalt hat, die

  1. im (Vor)Verständnis der Lernenden immer auch mit den von klassischen Methoden zu entwickelnden Vorstellungen interferiert,

  2. daher zumindest die statistischen Grundproblemstellungen sowie die klassischen statistischen Methoden besser begreifen lässt (so verstehe ich die Bemühungen Riemers, siehe auch Riemer 1985),

  3. die Modellierung von Realität flexibler und stimmiger gestalten lässt (Problemorientierung, so sehe ich die 'Auseinandersetzung Wickmann/Althoff),

  4. ferner m.E. die Subjektivität von Anwendungen offener und transparenter gestalten lässt als es im Rahmen der klassischen Statistik möglich ist.

Zur Diskussion des 'Common Sense'-Zugangs

Im Bericht zur Arbeitstagung wird zu Recht angemerkt, dass beim 'Common Sense'-Zugang von Bentz (Bentz/Palm 1980, Bentz 1983) „der Erwartungswert zunächst den Leitbegriff darstellt und als wesentliches Veranschaulichungsmittel das Glücksrad dient“. Wenn die Berichterstatter jedoch die Diskussion dahingehend als „strittig“ zusammenfassen, „wie die Konzentration auf ein Veranschaulichungsmittel (Glücksrad) zuungunsten von anderen oder einer Vielfalt an Mitteln didaktisch und lernpsychologisch zu beurteilen ist“, so möchte ich doch einige Anmerkungen anfügen. Grundsätzlich ist es so, dass die Leitidee des Zugangs von Bentz der Erwartungswert von Zufallsvariablen und nicht, wie üblich, der Wahrscheinlichkeitsbegriff ist. Wenn man es vom mathematischen Hintergrund her betrachtet, wird dieser Begriff in der Theorie der Zufallsvariablen aufgefangen, die der üblichen Kolmogoroff-Theorie mit Wahrscheinlichkeiten äquivalent ist. Diese mathematischen Beziehungen muss man jedoch nicht in ihrer Abstraktheit im Unterricht thematisieren.

Historisch gesehen hat es einen Wettstreit zwischen den Ideen 'Erwartungswert' und 'Wahrscheinlichkeit' gegeben, Pascal und Fermat schon (1654) und später haben in geschickter Weise Rekursionseigenschaften des Erwartungswertes ausgenützt, um bestimmte Probleme zu lösen. In der Folge hat sich jedoch in der Grundlegung das Gewicht auf den Begriff Wahrscheinlichkeit verlagert. Das kommt auch in der Definition von Wahrscheinlichkeit bei Laplace (1812) zum Ausdruck.

So manches Problem kann jedoch in der heutigen Theorieauffassung mit Wahrscheinlichkeiten sowie Erwartungswert als dem abgeleiteten (und im Unterricht vernachlässigten) Begriff nur unzulänglich behandelt werden. Auch heute noch gibt es ganz fest verhaftete primäre Intuitionen im Zusammenhang mit dem Erwartungswert, deren Nichtbeachtung eine erfolgreiche Problembehandlung mit Wahrscheinlichkeiten behindern können. Deswegen erscheint es durchaus als interessant und gerechtfertigt, vom Erwartungswert als Grundbegriff auszugehen.

Etwa kann die Additivität des Erwartungswertes

E(X+Y) = E(X) + E(Y)

auf inhaltliche Weise erschlossen werden, im üblichen Zugang wird sie nur formal bewiesen und es bleibt bei vielen Lernenden das Unbehagen, diese Additivität auch im Falle abhängiger Zufallsvariabler einzusetzen. Der Zugang von Bentz und Palm ist auch noch in der Hinsicht bemerkenswert, als er über weite Strecken das Glücksrad als wesentliches Mittel zur Visualisierung der Theorie einsetzt. Die einfachsten Zufallsvariablen, die sogenannten Indikatoren, lassen sich leicht durch Glücksräder 'materiell' darstellen.









Viele Beziehungen der Theorie sind auf den Glücksrädern direkt ablesbar, und können weiters durch das Operieren damit (Drehen der Räder) über sich ergebende relative Häufigkeiten erfahren werden. Die Glücksräder stehen als Mittler zwischen formaler Theorie und inhaltlichen Deutungen, sie können somit wesentlich zum Verständnis theoretischer Aussagen beitragen.

Natürlich kann man auch andere Veranschaulichungsmittel miteinbeziehen (Urnen, Würfel etc.). Diese werden zur mathematischen Erfassung auf die Theorie abgebildet, das heißt in diesem Zusammenhang eben, auf die entsprechenden Glücksräder abgebildet, weil gerade diese Glücksräder als rasch vertrauter Referenzrahmen für die inhaltliche Darstellung der Theorie dienen. Man sollte doch nicht den Zugang wegen seiner Konzentration auf die Glücksräder unter Verweis auf die möglichen lernpsychologischen und didaktischen Konsequenzen 'diskriminieren', ihre Stellung zur inhaltlichen Erschließung der Theorie ist ja gerade aus lernpsychologischen und didaktischen Erwägungen heraus begründet. Außerdem: Andere Veranschaulichungsmittel sind ja keineswegs ausgeschlossen. Statt der Entsprechung

vielfältige Veranschaulichungsmittel ® formale Theorie

hat man in diesem Zugang

vielfältige Veranschaulichungsmittel ® Glücksrad « formale Theorie

Ich hoffe, ich kann durch meine Bemerkungen zu einer offener geführten Diskussion der Vor- und Nachteile des 'Common Sense'-Zugangs beitragen.



Literatur

Althoff, H. (1985): Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Stuttgart: Metzler.

Bentz, H.-J. u. G. Palm (1980): Wahrscheinlichkeiten ohne Mengenlehre. In: mathematica didactica 3, 167-183.

Bentz, H.-J. (1983): Stochastics Teaching based on Common Sense. In: Grey, D.R. e.a. (Hrsg.): Proc. First Int. Conf. on Teaching Statistics. Sheffield: Teaching Statistics Trust, 753-765.

Bungartz, P. (1985): Toleranzen im Getriebe eines Autos und die Normalverteilung. In: Didaktik der Mathematik 13, Teil 1 128-140, Teil 2 169-183.

Riemer, W. (1985): Neue Ideen zur Stochastik. Mannheim: Bibliographisches Institut.

Wickmann, D. (1984): Ein Plädoyer für die subjektivistische Stochstik. Aachen: Habilitationsschrift.