Stochastik
in der Schule
Gauss 3D
Band 6(1986)
Heft 2

Anmerkungen zu J.S. Crouchers
„Änderungen der Tennisregeln: Wer profitiert davon?“

von Manfred Borovcnik, Klagenfurt


Zusammenfassung: Ich möchte zu Crouchers Artikel zweierlei Anmerkungen anfügen, die eine betrifft eine Begründung meiner als Herausgeber dieses Heftes getroffenen Auswahl gerade dieses Artikels aus ‚Teaching Statistics‘. Die andere betrifft einen ganz wesentlichen Gesichtspunkt in den Anwendungen von Stochastik: Ein Hauptergebnis von Croucher erscheint intuitiv als überraschend. Ich versuche diesen Umstand durch weitere Überlegungen inhaltlich, d.h. von der Sache her, sowie durch weitere mathematische Durchdringung des Problems, zu erhellen.

1. Zur Auswahl des Artikels von Croucher aus ‚Teaching Statistics‘ zur Übersetzung

W. Witzel hat unter dem Titel „Vergleich der Zählweise beim Tennis und Tischtennis“ in PM 26 (1984), S. 161-167, ähnliche Gedanken abgehandelt. Trotz einiger Überschneidungen habe ich den vorliegenden Artikel zur Übersetzung aus ‚Teaching Statistics‘ ausgewählt, weil insbesondere die Gedanken zur Spieldauer bei Witzel nicht thematisiert werden.

Der eigentliche Anlass, den Artikel von Croucher für das vorliegende Heft zu übersetzen, liegt jedoch in meinem Wunsch, die von ihm begonnene inhaltliche Diskussion der Frage der Spieldauerverkürzung fortzuführen, weil ich dadurch ein wenig von einer mir wichtigen Sichtweise zum Anwenden von Stochastik zum Ausdruck zu bringen hoffe.

2. Inhaltliches Verständnis des Formalismus

Ein mir sehr wichtiges Anliegen ist es, den mathematischen Formalismus auf inhaltlicher Ebene zu erschließen. Ein Hauptergebnis von Croucher erscheint im folgenden Sinn als intuitiv überraschend:

Die Verkürzung der zu erwartenden Dauer eines Spiels durch die neue Spielregel fällt am stärksten ins Gewicht, falls die beiden Spieler gleichwertig sind, d.h., falls p=q=1/2. Die im Artikel angegebene Verkürzung der Spieldauer für diesen Fall von 0,9375 Punkten erscheint intuitiv sehr klein. Man fragt sich, wozu man dann überhaupt eine Regeländerung durchführt, wenn ihre Gesamtauswirkung nicht einmal im Ausmaß eines Punktes an Spieldauerverkürzung (im Erwartungswert) ausfällt?

Man möchte das Ergebnis vielleicht nicht glauben. Folgende Anmerkungen sollen erstens das Ergebnis bestätigen, zweitens zeigen, warum man es als überraschend klein empfindet.

Wird ‚deuce‘ (40:40) nicht erreicht, so ist der Spielverlauf nach alter und neuer Regel identisch. Wird ‚deuce‘ erreicht, so ist unter der neuen Regel nur mehr ein einziger Punkt nötig, wer den macht, gewinnt das Spiel. Wird das Spiel jedoch nach der alten Regel fortgeführt, so kann es jeweils nur nach Zweierblöcken entschieden werden, entweder ein und derselbe Spieler gewinnt zwei Punkte hintereinander, ausgehend von Einstand, oder die Spieler gewinnen abwechselnd je einen Punkt, was den Einstand wieder herbeiführt.

Für p=1/2 ergibt sich folgendes Verlaufsschema:





Weitere Spieldauer Y,
ausgehend von ‚deuce‘

Wahrscheinlichkeit

2

4

6

...

...

Y/2 hat daher eine geometrische Verteilung mit ‚Erfolgsparameter‘ p=1/2, die erwartete Wartezeit bis zum 1. Erfolg (entspricht dem Ende des Spiels) beträgt 1/(1/2) = 2, der Erwartungswert von Y beträgt daher 4.

Ausgehend davon, dass ‚deuce‘ erreicht wurde, beträgt die zu erwartende Spieldauerverkürzung durch die neue Regel demnach 4-1=3 Punkte!

Wie ist das mit dem Ergebnis von 0,9375 im Artikel zu verknüpfen? Es tritt ‚deuce‘ bei p=1/2 nur mit Wahrscheinlichkeit 5/16 (Formel (4) von Croucher) ein. Es ist zu erwarten, dass in 11/16 der Spiele ‚deuce‘ nicht eintritt und sich daher auch keine Spieldauerverkürzung ergibt, d.h. X alt - X neu = 0 (X die jeweilige Spieldauer nach alter bzw. neuer Regel). Es gilt:




Der Erwartungswert der Spieldauerverkürzung insgesamt, das ist E(X alt - X neu), von 0,9375 gibt also allein nicht ausreichend Auskunft über die Wirksamkeit der neuen Spielregel. Für jene Fälle, in denen die neue Regel ‚in Kraft tritt‘ (bei 40:40), ergibt sich eine effektive zu erwartende Spieldauerverkürzung von drei Punkten.

Die Schwierigkeit, die verschiedenen Erwartungswerte zu erkennen und auseinander zu halten, macht das Problem aus, das ich einleitend damit umrissen habe, dass nämlich das Ergebnis von 0,9375 als intuitiv überraschend niedrig empfunden wird.



Dr. Manfred Borovcnik
Institut für Mathematik, Universität Klagenfurt, 9020 Klagenfurt