Kürzungen und ihre Auflösung

Kürzungen und ihre Auflösung

In: Die Kuenringer. Das Werden des Landes Niederösterreich. Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung im Stift Zwettl vom 16. Mai bis 26. Oktober 1981. Redigiert von Herwig Wolfram, Karl Brunner und Gottfried Stangler. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 110. – Wien: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Kulturabteilung 1981. XXXI, 748. 8°. Objekt-Nr.: 327, S. 305.

Zum Anfang   Zurück   Vorwärts   Zum Ende

Fenster schließen


Leihgeber: Zisterzienserstift Zwettl (Niederösterreich), 242
Kürzungen und ihre Auflösung

© Viktor Harrandt, Wien


Pergament, 180 Blätter (in der Handschrift das Spiegelblatt des Hinterdeckels als Blatt 181 gezählt), 265 x 190, zwei Spalten zu 43 bis 50 Zeilen, von einer Haupthand, Ulricus Bavarus de Sulczbach, und zwei Nebenhänden geschrieben, Cursiva. Bayerisch-österreichisch, 1373. Lombarden, Fleuronneéinitialen.

Photo der Innenseite des Hinterdeckels (= Blatt 181): Liste mit abgekürzten Namen von Kanonisten und Kürzungen juristischer Termini sowie deren Auflösung als Anhang zur Summa casuum conscientiae des Bartholomaeus de S. Concordio.
Bereits in der Antike bildete sich ein Kürzungssystem heraus, das im allgemeinen aus den ersten Buchstaben von Silben oder Wörtern bestand, hinter denen die restlichen Buchstaben weggelassen, d. h. suspendiert wurden. Die Suspensionen wurden vor allem bei kurzen und häufig vorkommenden Wörtern verwendet. Ihre Kenntlichmachung erfolgte durch Überstreichungen oder Durchkreuzungen, wobei sich für einzelne Buchstaben bisweilen mehrere Bedeutungsvarianten ergeben konnten. Verwendet wurden die suspensiven Kürzungen besonders in juristischen Texten, weshalb sie auch "notae iuris" genannt werden; doch sollten sie wegen ihrer Verwendung auch in nichtjuristischen Texten besser als notae antiquae bezeichnet werden. Listen solcher notae, sogenannte "laterculi notarum", sind handschriftlich seit dem 8. Jahrhundert erhalten; doch gehen diese auf antik-pagane, zum Teil schon christlich interpolierter Vorlagen zurück. Daneben entwickelte sich im antik-christlichen Schriftwesen ein zweites Abkürzungssystem. Dessen Grundlage bilden die "heiligen Namen", nomina sacra, zentrale christliche Begriffe, wie deus, Christus, Iesus, spiritus, die durch die Kontraktion von Anfang und Ende der Wörter zu DS, XPS, IHS, SPS gekürzt werden. Von dieser Basis aus griff das System der kontraktiven Kürzungen auch auf Bezeichnungen der Hierarchie über: z. B. episcopus ? eps, presbyter ? pbr. Schließlich erfuhr das Kontraktionssystem schon im 7. Jahrhundert bei den Iren und Angelsachsen eine beträchtliche Erweiterung dadurch, daß noch ausgewählte "notae iuris" und einige Zeichen aus der antiken Tachygraphie hinzugenommen wurden.
Mit dem Aufblühen des universitären Lehrbetriebes seit dem Ende des 12. Jahrhunderts erhielt der bis dahin in den einzelnen Fachdisziplinen noch überschau- und erlernbare Bestand durch neue Kürzungen und Symbole eine beträchtliche Erweiterung. Dabei wurde vor allem durch Ausnutzung der grammatikalischen Strukturen des Lateinischen und durch Hochstellen von Buchstaben und Silben eine große Beweglichkeit gewonnen. Der Schreiber erhielt die Möglichkeit, sich selbst Kürzungen zu bilden. Wie die Antike für die in Gesetzen und in der juristischen Literatur gebrauchten und oft nur schwer verständlichen suspensiven Kürzungen eigene Auflösungslisten benötigte, so bestand für die Adepten des gelehrten Rechtes spätestens seit dem 14. Jahrhundert die Notwendigkeit, ähnliche Hilfsmittel anzulegen. Diese Abbreviaturenverzeichnisse wurden entweder den großen Summen und Kompendien beigegeben oder scheinen in kleinen einführenden Lehrbüchern auf. So wurde schon in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eine kurze "tabula abbreviaturarum" zur Summa casuum conscientiae des Dominikaners Bartholomaeus de S. Concordio († 1347) angelegt, die zusammen mit der Summa eine weite Verbreitung – auch in den Inkunabeldrucken – fand. Dabei wurde ein Grundstock an Abbreviaturen mehr oder weniger stark variiert. Die "tabula abbreviaturarum" erklärt neben den suspensiv gekürzten Namen von Kanonisten auch noch verschiedene juristische Begriffe, wie z. B. "q id est questione", d id est distinccione, insti id est instituta oder ff id est digestis (eine Kürzung, die sich selbst wiederum aus D herleitet) und erklärt auch Zitate.




Literatur: Editionen von Listenvarianten: Paul LEHMANN, Sammlungen und Erörterungen lateinischer Abkürzungen in Altertum und Mittelalter (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Abt. NF 3, 1929) 43 f. (aus München, Universitätsbibliothek, Ms 2° 74, s. XV). – G. FUMAGALLI, Di un' antica tavola di abbreviazioni in un codice del sec. XV. Rivista delle biblioteche e degli archivi 6 (1895) 185-188 (nach einem Manuskript der Biblioteca Braidense in Mailand). BISCHOFF, Paläographie 192-213 (mit weiterer Literatur). – RÖSSLER 383.