© Viktor Harrandt, Wien
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Auf die im Text wie Bildschmuck gegebene Übereinstimmung der Handschriften Zwettl, Codex 296, und Klosterneuburg, Codex 685, haben bereits Cernik und Winkler hingewiesen. Man übersah jedoch, daß der im 12. Jahrhundert in Melk (?) geschriebene Codex lat. 643 der Vaticana eine weitere Parallelhandschrift ist. Alle drei Codices enthalten Beda ( 735), "De natura rerum", "De temporibus" (beide mit Interlinear- und Marginalglossen) und "De temporum ratione", fortlaufend geschriebene Glossen, einen anonymen Kommentar zu Beda, "De natura rerum", sowie einen Sternbildkatalog, der ebenso wie die daran anschließenden kurzen astronomischen Texte mit Illustrationen in Federzeichnungstechnik ausgestattet ist. Die bebilderten Texte gehen auf die mittellateinischen Übersetzungen der "Phainomena" (Himmelserscheinungen) des Aratos von Soloi (Anfang 3. Jahrhundert) zurück. Sie sind fast zur Gänze der als Anonymus II edierten, seit dem 9. Jahrhundert nachweisbaren lateinischen Bearbeitung des astronomischen Lehrgedichts entnommen (Ed.: Ernestus Maass, Commentariorum in Aratum reliquiae, Berlin 1898). Die übrigen Texte enthält in gleicher Abfolge der in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, wahrscheinlich in Auxerre entstandene Melker Codex 370 (alte Signaturen: 412 bzw. G 32), der als Vorlage des Codex Vat. lat. 643 angesehen wird (zu beiden Handschriften zuletzt Bernhard BISCHOFF, Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken in der Karolingerzeit, Teil 2: Die vorwiegend österreichischen Diözesen, 1980, 45f.; mit weiterführender Literatur).
Der Vergleich des Bildschmucks ergibt eine Entwicklung der Darstellungsweise, die vom Melker (?) Codex Vat. lat. 643 dessen Bilder in enger Beziehung zu den weit qualitätvolleren, noch in der antiken Tradition stehenden Deckfarbenminiaturen des 1056 datierten Codex Vat. lat. 123 stehen über Zwettl, Codex 296, zu Klosterneuburg, Codex 685, führt. Man beachte etwa die Zeichnungen des Andromeda-Sternbildes. Der enge ikonographische Zusammenhang legt die philologische Kollationierung der Codices nahe, um ihre angenommene unmittelbare Abhängigkeit zu verifizieren. Besonders eng ist der Zusammenhang zwischen den Zwettler und Klosterneuburger Zeichnungen; siehe etwa die Sternbilder Schiff und Wal, Jungfrau und Waage oder den auf vier Pferden sitzenden Sonnengott. Doch haben wie auch die Gegenüberstellung der Andromeda-Sternbilder zeigt weder der Zwettler und noch weniger der Klosterneuburger Künstler ihre Vorlage sklavisch kopiert. So hat der Zwettler Zeichner im Vatikan-Kodex, die in antiker Tradition als Rückenfiguren dargestellten Sternbilder wohl als Folge einer Mißinterpretation der unbeholfen gezeichneten Vorlage frontalisiert und als ikonographisch berechtigte, labile Standmotive verfestigt.
In der Art der Kostümierung und im Faltenstil hielten sich die Kopisten kaum an ihre Vorlage. So haben etwa Castor und Pollux (Sternbild Zwillinge) an Stelle der antiken Gewandung in der Zwettler Vorlage eine zeitgenössische Kriegstracht im Klosterneuburger Kodex erhalten. Was den Faltenstil anbelangt, wirkt aber der Klosterneuburger gegenüber dem Zwettler Kodex altertümlicher (vgl. etwa Zeichnung des Sonnengottes): Ersterer weist stämmige Figuren auf, die teilweise noch mit einem stark geometrisierenden Faltengespinst überzogen sind, ja hochgeblasene Faltenglocken aufwerfen. In der Zwettler Handschrift sieht man hingegen schlankere Figuren; die Faltenzeichnung nimmt stärker auf den Körper Rücksicht. Gerade fallende oder abflatternde Gewandteile mit betont eckig gebrochenen Säumen kommen vor. Trotzdem kann der Klosterneuburger nur vom Zwettler Kodex abhängen und nicht umgekehrt, worüber sich der Verfasser in einer ausführlichen Studie äußern wird.
a) Naturwissenschaftliche und Augustinus-Texte
Pergament, 218 Blätter, 265 X 190. Zwettl, um 1200.
Die beiden Bucheinheiten des Kodex (naturwissenschaftliche Texte bis Blatt 102r, Augustinus-Texte ab 103r) sind wohl erst 1783 (Datierung des Einbandes) zusammengefügt worden.
Dem ersten Teil der Handschrift dürfte der Codex Vat. lat. 643 zugrundeliegen; lediglich die auf Blatt 75v bis 81v des Vaticanus nachgetragenen (?) Texte sind nicht übernommen worden. Auch die auf 3r des Zwettler Kodex mit roter und schwarzer Tinte gezeichnete Rankeninitiale ist der in der Vatikan-Handschrift verwandt.
Figürliche Darstellungen: (85v-97r) Sternbilder, (97v) Büsten der Planeten, (99v) Tierkreis mit Sol und Luna im Zentrum, (100r) Luna auf dem Ochsenwagen, (101v) Sol auf vier Pferden sitzend. Die Bilder sind überwiegend mit schwarzer Tinte gezeichnet; daneben wird Zinnober vor allem für die Binnenzeichnung der Figuren und für die Sterne und Olivgrün (fast ausschließlich als Gewandfarbe) verwendet. Der Text zu den Sternbildern ist meist sehr knapp gehalten und beschränkt sich in der Regel auf die Angabe des Standorts der Sterne im jeweiligen Sternbild. Zu diesem früher fälschlicherweise Beda zugewiesenen Grundstock des Textes treten bisweilen (etwa im Sternbild Zwillinge) Stellen aus der Arat-Bearbeitung sowie Erklärungen aus Isidor, Etymologiae.
Aufgeschlagen Blatt 87v und 88r mit den Sternbildern Bootes (Arcades) bzw. Jungfrau mit Waage (Abb. rechts). Abgebildet Blatt 91v mit Sternbild Andromeda.
Farbdias: Blatt 88v mit Sternbilder Zwillinge und Krebs (Dia e), Blatt 96v mit Sternbilder Schiff und Wal (Dia a), Blatt 101v mit dem auf Tier Pferden sitzenden Sonnengott (Dia c).
b) Naturwissenschaftliche Texte
Pergament, 88 Blätter, 310 X 212. Klosterneuburg, um 1200.
Text wie Bildschmuck sprechen für eine unmittelbare Abhängigkeit vom ersten Teil des Zwettler Codex 296. Ebenso wie dieser ist auch die Klosterneuburger Handschrift in mittelalterlichen Bücherverzeichnissen ihres heutigen Aufbewahrungsortes nicht nachweisbar, doch steht ihre Klosterneuburger Provenienz außer Frage: siehe etwa die Tatsache, daß alle Überschriften und die einfachen roten Initialen auf 1r bis 69v von einer im Klosterneuburger Skriptorium nachweisbaren Hand stammen (z. B. in CCI. 20). Die figürlichen Darstellungen auf 70v bis 88r sind in Violett und Rot, bisweilen auch in Beige gehalten. Schwarzbraune Tinte wird nur im Sternbild der Jungfrau verwendet, Grün nur für wenige Details. Der gleichen Hand ist auch das Autorenbildchen in der Initiale zum Textbeginn von Beda, "De natura rerum", auf 1v zuzuweisen. Innerhalb des Klosterneuburger Handschriftenbestandes zeigt die Disputatio-Szene im Codex 311 einen entfernt verwandten Faltenstil; eine vergleichbare Stilrichtung vertreten auch die Zeichnungen in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex 942.
Die Klosterneuburger Handschrift zeigt einen im Stift um die Mitte des 15. Jahrhunderts angefertigten Blindstempeleinband. Das bei dieser Gelegenheit verfaßte Titelschildchen nennt fälschlicherweise Hyginus als Autor des Sternbildkatalogs.
Aufgeschlagen Blatt 72v und 73r mit den Sternbildern Schlangenhalter, Krone und Skorpion bzw. Bootes (Arcades). Abgebildet Blatt 73v mit Sternbild Jungfrau und Waage (links) und Blatt 77r mit Sternbild Andromeda.
Farbdias: Blatt 74r mit Sternbilder Zwillinge und Krebs (Dia f), Blatt 82r mit Sternbilder Schiff und Wal (Dia b), Blatt 88r mit dem Sonnengott (Dia d).
Alois Haidinger
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