Lebendes Kreuz

Lebendes Kreuz

In: 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung in Krems-Stein, Minoritenkirche, vom 15. Mai bis 17. Oktober 1982. Redigiert von Harry Kühnel, Hanna Egger, Gerhard Winkler. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 122. – Wien: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Kulturabteilung 1982. XXVIII, 775. 8°. Objekt-Nr.: 10.97, S. 619.

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Leihgeber: Bayerische Staatsbibliothek (München, Deutschland), clm. 23041
Lebendes Kreuz

© Bayerische Staatsbibliothek, München


Graduale.
Augsburg (?), 1494/1497.
Pergament, 212 Blatt, 57 x 40 cm.
Einband: Leder mit Beschlag, Werkstatt der Münchner Franziskaner.
Aus dem Klarissenkloster St. Jakob am Anger, München.
Ausstattung: sieben historisierte Initialen
Blatt 3v Lebendes Kreuz
Blatt 31v Geburt Christi
Blatt 37v Anbetung des Jesusknaben durch die Hirten
Blatt 44r Anbetung der Könige
Blatt 57r Tod einer Klarissin
Blatt 140v Einzug eines Papstes
Blatt 181r Lebendes Kreuz

Zur Geschichte der Handschrift und ihrer stilistischen Einordnung vgl. "Traum Innozenz III. von der einstürzenden Lateransbasilika".
Die aufgeschlagene Seite zeigt als Initialbild die Darstellung des lebenden Kreuzes. In der kulissenartig ansteigenden Landschaft erhebt sich ein Kreuz mit dem Leichnam Christi. Über dem Längsbalken erscheint Gottvater mit zum Segensgestus erhobener Rechten; in der Linken hält er den Reichsapfel. Rechts und links von Gottvater sowie außerhalb der beiden Querbalkenenden halten sechs Engel unbeschriftete Schriftbänder. Von jeder Seite reiten zwei Frauengestalten auf das Kreuz zu; jene auf der linken Seite reitet auf einem Tetramorph; mit dem Kelch in ihrer Linken fängt sie das Blut aus der Seitenwunde Christi auf. Sie ist die Personifikation der Ekklesia. Von der rechten Seite nähert sich auf einem Esel reitend die Synagoge; in ihrer Linken hält sie einen abgeschnittenen Ziegenbockkopf, in ihrer Rechten den zerbrochenen Schaft eines Wimpels; ihre Augen sind verbunden. Die vom rechten Kreuzarm ausgehende Hand durchbohrt mit einem Schwert ihren Kopf. Unterhalb der Ekklesia steht eine im Maßstab größere Figur, Maria, die unter ihrem Mantel zwei kniende Laien birgt; in ihrer Linken hält sie ein Kruzifix. Ihr Gegenstück ist die nackte Figur der Eva, die den Apfel vom Baum der Erkenntnis pflückt; in ihrer Linken hält sie einen Totenschädel. Im unteren Bilddrittel befreit Christus die Vorväter aus der Vorhölle; er wird von Engeln begleitet. Die vom Kreuzfuß ausgehende Hand zerschlägt mit einem Hammer die Pforten der Hölle. Alle auf der Miniatur wiedergegebenen Schriftbänder sind nicht beschriftet. Auf folio 181r findet sich eine wörtliche, im Maßstab kleinere Wiederholung dieses Miniaturbildes. Wie auch der Stammbaum (vgl. "Rosarium beati Francisci") wiederholt diese Miniatur ziemlich genau einen Holzschnitt mit der Darstellung des lebenden Kreuzes (Pavia, Museo Civico), der im bayerisch-österreichischen Raum um 1460/70 entstanden sein muß.
Die Grundidee des Lebenden Kreuzes ist der Kreuzestod Christi als Überwindung bzw. Ende des Alten Bundes und als Neubeginn der Kirche; am Kreuz hat der Erlöser den Himmel erschlossen und die Pforten der Hölle geöffnet; durch die Befreiung der Vorväter aus dem Limbus hat er den Tod besiegt. Diese vier Funktionen des Kreuzestods Christi veranschaulichen in gedanklicher Abstraktion die vom Kreuz selbst ausgehenden Hände. Das Ende des Alten Bundes symbolisiert die vom Schwert getroffene Synagoge, den Beginn des Neuen die auf dem Tetramorph heranreitende Ekklesia (Füglister).


Elisabeth Vavra

Gehe zu: Traum Innozenz III. von der einstürzenden Lateransbasilika ; Rosarium beati Francisci


Literatur: Robert L. FÜGLISTER, Das Lebende Kreuz. Ikonographisch-ikonologische Untersuchung der Herkunft und Entwicklung einer spätmittelalterlichen Bildidee und ihrer Verwurzelung im Wort (Einsiedeln 1964).
Erich STEINGRÄBER, Die kirchliche Buchmalerei Augsburgs um 1500 (= Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 8, Augsburg u.a. 1956).
Erich STEINGRÄBER, Über wiedergefundene Blätter aus illuminierten Handschriften für das Münchner Angerkloster. In: Das Münster 6 (1953), S. 259ff.
Erich STEINGRÄBER, Beiträge zum Werk des Augsburger Buchmalers Ulrich Taler. In: Pantheon 19 (1961), S. 119ff.