Toruńer Altar

Toruńer Altar

In: 800 Jahre Franz von Assisi. Franziskanische Kunst und Kultur des Mittelalters. Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung in Krems-Stein, Minoritenkirche, vom 15. Mai bis 17. Oktober 1982. Redigiert von Harry Kühnel, Hanna Egger, Gerhard Winkler. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums. N.F. 122. – Wien: Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Kulturabteilung 1982. XXVIII, 775. 8°. Objekt-Nr.: 10.74, S. 599.

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Leihgeber: Muzeum Narodowe (Warschau, Polen)
Toruńer Altar

© Foto T. Zoltowska, Warschau


Toruń, um 1390.
Tempera auf Holz, je 124 x 167 cm beziehungsweise 99 x 167 cm.
Aus dem Franziskanerkloster Toruń.

Keine der bis jetzt in der Literatur publizierten Rekonstruktionen des Hochaltars der Toruńer Franziskanerkirche ist völlig überzeugend. Die aus der Zeit um 1710 überlieferte Beschreibung des Altars durch den Toruńer Bürgermeister Johann Baumgarten bietet nur wenig Anhaltspunkte. Er berichtet von einem Altar im Chor, der diesen in der Breite des Raumes füllte. Von den dargestellten Szenen führt er solche der Passion Christi an; im geöffneten Zustand erwähnt er gemalte Evangelistenbilder und im Inneren die Geburt Christi sowie die geschnitzten Bilder verschiedener Heiliger. Die Aufstellung bei der Ausstellung erfolgt nach ikonographischen Gesichtspunkten; es haben sich insgesamt sechs Tafeln (A-E) erhalten, die beidseitig bemalt sind und je zwei bzw. drei Szenen pro Seite tragen. Um den Benützer des Kataloges die Lokalisierung der einzelnen Darstellungen zu erleichtern, zeigen die den Ziffern in Klammern nachgestellten Buchstaben, das Vorkommen auf derselben Tafel an.
1 (A). Gebet Christi am Ölberg.
Christus kniet in einer felsigen Landschaft; zu seinen Füßen kauern die drei ihn begleitenden Apostel, in ihren Mänteln eingehüllt schlafend.
2 (A). Gefangennahme Christi.
Während die Gerichtsknechte Christus am Gewand packen, um ihn wegzuzerren, heilt er mit seiner Rechten das abgehauene Ohr des Knechtes Malchus an. Die Jünger verlassen Christus.
3 (A). Dornenkrönung Christi.
Die obere Bildhälfte nimmt ein Podium mit einer thronähnlichen Bank ein, auf der Christus sitzt, das Spottszepter in Händen. Auf der Bank stehen zwei Gerichtsknechte, die mit Holzprügeln die Dornenkrone auf das Haupt Christi drücken. In der unteren Zone knien die spottenden Juden.
4 (B). Christus vor Pilatus.
Unter einer Baldachinarchitektur thront Pilatus, modisch gekleidet mit Schultermantel und Schnabelschuhen. Über die Thronlehne beugt sich ein Teufel und zupft Pilatus am Ohr. Zu Füßen Pilatus' sitzt ein kläffender, löwenmähniger Hund. Eine Gruppe von Gerichtsknechten hat Christus vorgeführt.
5 (B). Geißelung Christi.
Die Geißelung findet in einer nach allen Seiten offenen Baldachinarchitektur statt; Christus, nur mit einem durchscheinenden Lendentuch bekleidet, ist mit Stricken an die Geißelsäule gebunden. Die Schergen schlagen mit Geißeln und Ruten auf ihn ein. Auffallend ihre betont modischen Bekleidungsformen, wie enge wattierte Wämser, Beinlinge und Schnabelschuhe.
6 (C). Kreuztragung Christi.
Christus schleppt das Kreuz, das bereits für die Nägel durchbohrt zu sein scheint und dessen unteres Ende zugespitzt ist. Der Zug zur Gerichtsstätte besteht nur aus Gerichtsknechten in Rüstung, die zum Teil mit Knüppel auf Christus einschlagen.
7 (C). Ohnmacht Mariens vor den Toren Jerusalems.
Das Motiv der ohnmächtig zusammenbrechenden Maria ist im Zusammenhang mit der Kreuztragung Christi nur selten überliefert. Es ist vor allem aus der franziskanischen Literatur bekannt. Es findet sich sowohl in den Meditationes vitae Christi und auch bei Ubertino da Casale im Arbor vitae cruzifixae (1305).
8 (D). Kreuzigung Christi.
Dargestellt ist eine vielfigurige Kreuzigung, die auch die Hinrichtung der Schächer miteinbezieht. Weitere Episoden, die miteinbezogen werden, sind die Ohnmacht Mariens unter dem Kreuz und die Heilung des blinden Longinus. Er durchbohrt mit einer Lanze die Seite Christi und der aus der Wunde hervorspritzende Blutstrahl trifft seine blinden Augen, wodurch er wieder sehend wird.
9 (D). Kreuzabnahme.
An der Szene nehmen nur die drei heiligen Frauen und zwei Männer teil, Joseph von Arimatheia, der den Körper Christi auffängt und ein zweiter, der die Nägel löst.
10 (D). Beweinung Christi.
In der unteren Bildzone der Kreuzabnahme findet die Beweinung statt. Man hat den Leichnam Christi Maria in den Schoß gelegt; seine Beine ruhen auf den Schoß des Johannes. Hinter dieser Gruppe wirft eine Frau, vermutlich Maria Magdalena, klagend die Arme empor. Josef von Arimatheia nähert sich von rechts mit einem Salbgefäß.
11 (E). Der Auferstandene erscheint seiner Mutter Maria; die drei Marien am Grabe.
Die ungewöhnliche Ikonographie folgt den Meditationes vitae Christi. Während in der unteren Zone der Engel den drei Heiligen Frauen, die ans Grab kommen, um Christi zu salben, mitteilt, daß Christus auferstanden ist, erscheint dieser in der oberen Zone Maria, die sich bereits im Haus Johannes' aufhält.
12 (E). Himmelfahrt Christi.
Christus erscheint in einer Mandorla, die blutenden Wundmale an Händen und Füßen vorweisend. Ihm zu Füßen eine Gruppe bestehend aus Maria und acht Aposteln.
13 (F). Herabkunft des Heiligen Geistes.
In einem geschlossenen Raum sitzen die Apostel; in ihrem Zentrum betend Maria. Flammenzungen über den Häuptern deuten die Herabkunft des Heiligen Geistes an, der auch in einer unter der Decke des Raumes schwebenden Taube sichtbar wird.
14 (F). Tod Mariens.
Maria ist bereits tot; ihr Lager umstehen die Apostel; Petrus sprengt Weihwasser aus. Christus erscheint ganzfigurig in einer Mandorla und trägt das Seelenkind Mariens in den Himmel.
15 (F). Anbetung der heiligen drei Könige.
Maria sitzt auf Kissen unter dem Dach eines Ständerbaues und hält das nackte strampelnde Jesuskind auf dem Schoß fest. Der älteste der heiligen Könige kniet vor den beiden und küßt Jesus die Hand. Diener halten eine Kassette mit den Geschenken.
16 (F). Darbringung im Tempel.
Maria kniet vor dem Altar, auf dem das nackte Jesuskind sitzt, das von Simeon gehalten wird. Hinter ihr stehen Joseph und eine Magd. Auf den Stufen des Altares liegt ein geöffnetes Buch mit der Inschrift: Nunc dimittis servum tuum domine secundum verbum tuum in pace Quia viderunt oculi mei (Lk 2,29 ff: Nun läßt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen). Die Darstellung der knienden Maria vom Typus einer Humilitätsmadonna dürfte die erste nördlich der Alpen sein; dieser Typus ist vor allem im Umkreis der franziskanischen Orden beheimatet.
17 (F). Der zwölfjährige Jesus lehrt im Tempel.
Der Tempel, in dem Jesus lehrt, ist als hohes gotisches Gebäude wiedergegeben, in dessen Giebeln Propheten, die Verkündigung und der segnende Gottvater dargestellt ist. Um den thronartigen Aufbau, von dem der Knabe aus lehrt, stehen und hocken die jüdischen Gelehrten.
18 (E). Trinität (Not Gottes?).
Aus dem Stamm eines Baumes entspringt eine Regenbogenmandorla. Gottvater, ein alter bärtiger Mann, thront auf einem Regenbogen in dieser Mandorla. Über ihm schwebt die Taube des Heiligen Geistes; in seiner Linken hält er eine Scheibe mit der Darstellung der vier Elemente; vor seiner Brust steht ein langgewandeter Knabe, der sich mit seiner Linken auf die Weltscheibe stützt. Hinter Gottvater wird, durch den Vorhang verhüllt, die Figur des gekreuzigten Christus sichtbar, dessen Hände und Füße an den Regenbogen genagelt scheinen. Die Mandorla wird umgeben von vier anbetenden Engeln und vier Medaillons mit den Evangelistensymbolen, die gleichzeitig die vier apokalyptischen Wesen verkörpern. Am Fuß des Baumes befindet sich ein weiteres Medaillon, in dem das Lamm Gottes dargestellt ist; seine Füße sind in Form eines Gekreuzigten an das Medaillon genagelt. Zu Seiten des Baumes stehen Johannes der Täufer, Ekklesia und Synagoge sowie Johannes der Evangelist. Ekklesia fängt in einem Kelch das Blut aus der Brustwunde des Lammes auf; Synagoge, mit dem abgeschnittenen Ziegenkopf in ihrer Linken wendet sich vom Baum der Erkenntnis ab, dem Baum, der aus dem Grab Adams entspringt.
19 (E). Verkündigung an Maria.
Gabriel bringt kniend Maria die Botschaft dar. Maria kniet vor ihrem Betpult, in dessen Nische eine Vase mit der Lilie, dem Symbol der Jungfräulichkeit Mariens steht.
20 (E). Beschneidung Christi.
Maria hält den nackten Jesusknaben auf dem Altar. Sie wird von einer Frau begleitet, die ebenfalls durch einen Nimbus ausgezeichnet ist.
21 (D). Stigmatisation des heiligen Franziskus.
Franziskus erblickt in einer Vision das Bild eines gekreuzigten Seraphs, bei dessen Anblick er die Stigmata empfängt. Die Ikonographie folgt dem gebräuchlichen Schema. Selten ist das Motiv der abgelegten Sandalen, das auf dieser Tafel dargestellt wird. Es erinnert an Parallelen im Alten Testament: Moses, der seine Schuhe ablegt, als Gott ihm im brennenden Dornbusch erscheint und vor allem Moses bei der Gesetzesübergabe. Denn wie Moses mit den Gesetzestafeln als Bestätigung des Alten Bundes vom Berge herabsteigt, so kehrt Franziskus mit den Stigmata als Beweis der Richtigkeit und Gültigkeit der Erlösungstat Christi zurück.
22 (D). Anna Selbdritt.
Auf einer Bank sitzt die heilige Anna und hält auf ihrem Schoß die kindliche Maria; beide halten den nackten Jesusknaben. Zu Füßen der Anna Selbdritt kauern die Propheten Moses und Isaias mit Schriftbändern, die folgende Inschriften tragen: Orietur stella ex iacob (Moses 4, 24, 27: Ein Stern wird aufgehen aus Jakob); Egredietur virga de radice yesse yzayas (lsaias 11,1: Aus der Wurzel Jesse wird ein Zweig hervorwachsen).
23 (A). Tempelgang Mariens.
Die Tafel ist stark zerstört. Erkennbar sind noch Joachim und Anna, die ihre Tochter zum Tempel bringen. An der Pforte nimmt der Priester Maria in Empfang. Der Tempelbezirk wird durch eine zinnenbekrönte Mauer umschlossen.
24 (A). Klara schlägt durch ihr Gebet die Sarazenen in die Flucht.
Klara kniet im Gebet versunken vor dem Ziborium. Hinter ihr haben sich die Schwestern versammelt; das Ziborium wurde auf einen Altartisch vor die Klosterpforte getragen; im Hintergrund die Kirche S. Damiano. Die Legende berichtet darüber: "Als die Feinde in ihrer Wut sich einmal auf Assisi, die Stadt, die der Herr besonders liebte, stürzten und das Heer sich sogar schon den Stadttoren näherte, drangen die Sarazenen, ein verruchtes Volk, die nach dem Blute der Christen dürsten und jeglichen Frevel schamlos wagen, bei S. Damiano in die Gemarkungen des Ortes, ja sogar in das Kloster der Jungfrauen selbst ein. Die Frauen vergingen vor Angst, ihre Stimme erzitterte vor Furcht, und sie brachten ihr Wehklagen zur Mutter hin. Sie aber, die krank daniederlag, blieb furchtlos und ließ sich zur Tür führen, vor die Feinde hinlegen und vor sich her ein silbernes, innen mit Elfenbein ausgelegtes Kästchen, in dem der Leib des Heiligen andächtigst verehrt wurde, tragen.
25 (C). Der heilige Antonius predigt auf dem Kapitel in Arles.
Antonius predigt von einer Kanzel aus über den Kreuztitel. In seiner Linken hält er ein aufgeschlagenes Buch, auf dessen Seiten der Titulus Jesus Nazarenus Rex Judaeorum steht. Am linken Bildrand stehen vor einem Kirchengebäude drei Augustinerchorherren in Anspielung auf die frühere Zugehörigkeit des Heiligen zu diesem Orden. Vor der Kanzel kauern vier Minderbrüder. Die in der Legende beschriebene Erscheinung des heiligen Franziskus, die während der Predigt des heiligen Antonius erfolgte und die einer der Minderbrüder sah, wird hier zur Erscheinung des Heiligen als eines ans Kreuz Genagelten in der wörtlichen Auslegung der Legendenstelle, die davon spricht, daß Franziskus mit ausgebreiteten Armen, wie ein ans Kreuz Gehefteter, erschien und die Brüder segnete.
26 (C). Pieta.
Maria, vom Schwert des Leidens nach der Prophezeiung Simeons durchbohrt, hält den Leichnam ihres Sohnes auf ihrem Schoß. Links kniet Johannes der Evangelist, mit einem Kelch und einem Schriftband, das die Aufschrift Iohannes Ecce filius tuus trägt; rechts kniet Simeon mit dem Schriftband Simeon Tuam ipsius animam pertransibit gladius (Luk 2,35 Ein Schwert wird deine Seele durchbohren).
27 (B). Schutzmantelmadonna.
Maria steht auf einem Halbmond; unter ihrem Mantel birgt sie Vertreter aller Stände: einen Bischof, einen Mönch, Frauen und Männer. Links kniet Maria Magdalena mit dem Spruchband: Magdalena, mater misericordie, rechts kniet der Apostel Paulus mit dem Spruchband: Paulus Peccatorum miserere. Maria Magdalena und Paulus sind die großen bekehrten Sünder des Neuen Testamentes; sie bitten Maria um Gnadenvermittlung für die unter ihrem Mantel geborgenen Sünder .
28 (B). Ludwig von Toulouse verzichtet auf weltliche Würden.
Ludwig, im franziskanischen Habit, steht barfüßig auf der Krone; das Szepter hält er verkehrt in seiner Linken, um so seinen Willen zu bekunden, auf die Thronfolge zu verzichten. Von rechts nähert sich sein Vater Karl II. mit seinem Gefolge, um seinen Sohn vom Verzicht auf die königliche Würde abzubringen. Gottvater hält über den jugendlichen Bischof die Krone des ewigen Lebens.
Der schlechte Erhaltungszustand des Altars erschwert eine stilistische Einordnung; deutlich unterscheiden sich die Bilder der Jugendgeschichte von den übrigen. Ihr Stil zeigt sich vom ersten böhmischen Stil, etwa dem des Hohenfurther Altars bzw. des Marientodes aus Košatky , abhängig. Die stilistisch auf jüngeren Grundlagen aufbauenden Tafeln mit Szenen der Passion lassen sich etwa mit der Stilstufe des Wittingauer Altars vergleichen und zeigen sich ebenfalls von der böhmischen Kunst beeinflußt; Beziehungen bestehen aber auch zu der niederdeutschen Kunst. Das komplexe ikonographische Programm läßt eine Entstehung des Altars unter Einflußnahme der Auftraggeber vermuten bzw. die Hypothese einer Entstehung in einer klösterlichen Werkstatt aufkommen.


Elisabeth Vavra


Literatur: Gregor BRUTZE, Mittelalterliche Malerei im Ordenslande Preußen, Bd. 1: Westpreußen (= Danziger kunstgeschichtliche Forschungen 2, Danzig 1937), S. 47ff.
M. MICHNOWSKA, Ze studiów nad XIV-wiecznym poliptykiem toruńskim. In: Teka Komisji Historii Sztuki 2 (1961), S. 121ff.
Tadeusz DOBRZENIECKI, Toruńska Quinitas. In: Biuletyn Historii Sztuki 2 30 (1968), S. 261ff.
Tadeusz DOBRZENIECKI, Catalogue of the medieval painting (Warsaw 1977), S. 114ff. (mit kompletter Literaturliste).
B. SCHMID, Aufstellung der Bildtafeln des alten Hochaltars der Marienkirche zu Thorn. In: Die Denkrnalpflege in der Provinz Westpreußen im Jahre 1912 (1913), S. 13ff.
Tadeusz DOBROWOLSKI, Wystawa polskiej sztuki gotyckiej w Warszawie. In: Rocznik Krakowski 26 (1935), S. 208ff.
Alfred STANGE, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. 2: Die Zeit von 1350 bis 1400 (München u.a. 1936), S. 80ff.